Thomas Gerhards: Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmnung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 18), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 514 S., ISBN 978-3-506-77747-8, EUR 68,00
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Die vorliegende Dissertation von Thomas Gerhards bietet eine differenzierte Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte eines der berühmtesten und wirkmächtigsten Historiker des 19. Jahrhunderts in Deutschland und partiell auch in England. Es interessiert den Autor nicht, was Treitschke mit seinen Schriften intendierte und er bietet auch keine neue Interpretation des Werkes. Im Fokus der Arbeit steht, wie die Schriften wahrgenommen und von späteren Generationen benutzt wurden. Folgerichtig steht am Beginn des Buches nach einer Kurzbiographie und der üblichen Denkmalsetzung für Treitschke im Kaiserreich die Wirkung seiner Lehre. Da dieser fast taub war, bildete er weder einen Schülerkreis noch hielt er Seminare, sondern konzentrierte sich in der Lehre auf seine Vorlesungen. Diese hatten aufgrund seiner lautstarken und effektvollen Rhetorik regelrechten Eventcharakter. In seinem Berliner Hörsaal versammelten sich nicht nur Studenten in großer Zahl, Frauen verwies er des Saales, sondern auch Offiziere, Adlige und weitere stramm national gestimmte Exponenten des kaiserzeitlichen Establishments. Dabei standen in den Erinnerungen der Zuhörer an diese Veranstaltungen nicht der Inhalt im Vordergrund, sondern die nationalen Emotionen. Trotzdem druckten begeisterte Studenten eine Kompilation von Mitschriften aus Treitschkes wenig stringenten Vorträgen. Dieses Sammelsurium apodiktischer Urteile wurde dann etwa in England mehr rezipiert als die rund 7000 Seiten starke "Deutsche Geschichte".
Konzeptionell wirkte Treitschke am stärksten in den Jahren bis zur Reichseinigung, den rassistischen Antisemiten und seinen alldeutschen Schülern, wie Heinrich Claß, gingen seine Ausführungen in den 1880er und 1890er Jahren zu einem starken Nationalstaat nicht weit genug. Gerhards beharrt in seiner Arbeit immer wieder auf diesen beiden Aspekten: Zum einen sei Heinrich von Treitschke nie ein rassistischer Antisemit gewesen. Er sei vielmehr davon ausgegangen, dass Juden bei entsprechender Bildung zu aufrechten deutschen Staatsbürgern werden könnten. Dennoch habe er mit seinen Aussagen (wie "Die Juden sind unser Unglück") den Antisemitismus salonfähig gemacht und so ein schleichendes Gift verbreitet. Zum anderen hätte der Historiker nie imperialistisches Gedankengut vertreten. Das hielt die Nachwelt aber nicht davon ab, ihn genau bei diesen beiden Themen zu vereinnahmen. So waren englischen Autoren zu Beginn des Ersten Weltkriegs davon überzeugt, dass Treitschkes Lehre direkt zu den Greueltaten in Belgien geführt hätten.
In der Weimarer Republik erfuhren Treitschkes Werke weiter hohe Auflagen und elf Dissertationen über ihn und sein Werk bezeugen ein hohes historiographisches Interesse. Den konservativen, etablierten Historikern gilt er nun als ein beispielgebendes Relikt einer glänzenden Vergangenheit. Den Völkischen sagt er nichts mehr und seine Person wird zunehmend vom Werk getrennt und mythisiert. Diese Tendenz findet dann eine extreme Fortführung während des Nationalsozialismus. Treitschkes Werk gehört zum Kanon und seine Instrumentalisierung erfährt neue Höhepunkte. Alfred Rosenbergs "Volksausgabe" von Treitschkes stark gekürzter "Deutscher Geschichte" bietet partiell einen völlig neuen Text. Durch Kürzungen, Änderungen und geschickte Auslassungen bewirkt Rosenberg Sinnveränderungen, so dass Treitschkes Schriften einen rassistischen Antisemitismus zu vertreten scheinen. Die Figur Treitschkes wird von der "kämpfenden" Wissenschaft auf die Stereotypen "Kämpfer" und "deutscher Mann" reduziert.
In der Bundesrepublik setzte dann allmählich eine kritische Auseinandersetzung ein. Die Geschichtswissenschaft wollte wieder objektiver sein. Des Weiteren wird nun Treitschke verhängnisvolle Wirkung auf das national gesinnte Bürgertum reflektiert. In der DDR ist das Urteil über Treitschke auch nicht einhellig. Einerseits existieren Affinitäten gegenüber Treitschkes Vorstellungen, dass Geschichtsschreibung Kampf bedeute und ein starker unitarischer Staat einem föderalen unbedingt vorzuziehen sei. Andererseits steht Treitschke natürlich für ein bourgeois-junkerliches Klassenkonzept und als Symbol für eine verhängnisvolle Entwicklung in Richtung Militarismus und Imperialismus nach 1870/71.
Das letzte Kapitel thematisiert schließlich die Jahre 1960-2000 und die nun überaus kritische Auseinandersetzung mit Treitschkes Werk, sowie die partiell schon reflexhafte Inanspruchnahme von Treitschke als extremen Nationalisten und Antisemiten, der dann schon zum Präfaschisten mutiert. Stichfeste Belege für ihre Thesen bleiben die Autoren nach Gerhards schuldig. Während der Lektüre der gesamten Arbeit und nochmals konzise in der Schlussbetrachtung wird deutlich, dass Treitschke aufgrund seiner schroffen Persönlichkeit, seines glänzenden Schreibstils, seine politischen Wirkungswillen, der sein ganzes Leben das preußische Banner geschwenkt hatte und Hass gegen England predigte, polarisierte wie kaum ein anderer. Dabei hat sich jede Historikergeneration das aus seinem durchaus widersprüchlichen Werk herausgebrochen, was sie brauchte. Treitschke wurde zum Mythos - positiv wie negativ. Die Worte "Treitschke revidivuvus" eignen sich auch heute hervorragend, um Kollegen zu beleidigen. Gerhards plädiert abschließend für einen objektiveren Umgang mit Treitschke, resigniert aber gleichzeitig mit den Worten von Wolfgang J. Mommsen, dass Treitschke ein "Stein des Anstoßes bleiben wird."
Die vorliegende, glänzend geschriebene und sorgfältig edierte Arbeit bietet nicht nur wichtige Ergebnisse zur spannenden Treitschke-Rezeption, sondern zugleich auch in jedem Kapitel konzise Analysen zur Geschichtsschreibung der jeweiligen Epoche. Es ist überzeugend, Treitschke als nur einen Vertreter des elitären kaiserzeitlichen Antisemitismus zu präsentieren, der trotzdem ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung dafür trägt, dass diese Haltung gesellschaftsfähig wurde. Überzeugend ist weiterhin, mit Ute Daniel davor zu warnen, den Einfluss von Historikern auf die deutsche Geschichte von 1914 bis 1945 zu überschätzen.
Gabriele B. Clemens