Susanne Mersmann: Die Musées du Trocadéro. Viollet-le-Duc und der Kanondiskurs im Paris des 19. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2012, 368 S., 92 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01448-5, EUR 59,00
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Deutschsprachige Publikationen zum großen französischen Architekten, Denkmalpfleger und Kunsttheoretiker Eugène-Emmanuelle Viollet-le-Duc sind nach wie vor spärlich gesät - schon von daher ist die vorliegende Marburger Dissertation von Susanne Mersmann über die Musées du Trocadéro in Paris ein wichtiger Beitrag zu diesem Themenumfeld. Steigt man jedoch etwas intensiver in die Lektüre ein, merkt man recht schnell, dass Viollet-le-Ducs Name im Buchtitel eher nur ein Aufhänger ist - eigentlich befasst sich die Autorin mit den Ergebnissen ihrer Auswertung von Schriftquellen zur Gründungsgeschichte der Musées du Trocadéro in Paris ab 1882: dem Musée de sculpture comparée nach einem Konzept von Viollet-le-Duc und dem Musée d'Ethnographie, konzipiert von dem Mediziner Ernest-Théodore Hamy. Hierbei stellt sie die Kernfrage ihrer Arbeit nach der Kanonbildung für skulpturale sowie ethnografische Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Sicherlich ist zu begrüßen, dass Mersmann aufgrund ihres Untersuchungsgegenstands sämtliche Zitate im Original, also in französischer Sprache, wiedergibt. Sie erwähnt dazu bereits im Vorwort, dass ihre Dissertation ein "klares Statement für die französische Sprache" abgebe. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, wenn die vielen und teilweise ausführlichen französischen Zitate im Text selbst oder in den Anmerkungen unterhalb eine direkte deutsche Übersetzung erfahren hätten. So muss der dem Französischen nicht so mächtige Leser jedes Zitat mühsam im hintersten Teil des Buches nachschlagen und kann dabei schon mal den Argumentationsfaden etwas aus den Augen verlieren.
Überhaupt ist das ein wenig das strukturelle Manko der Arbeit: Die vielen aus den Schriftquellen herausgearbeiteten Einzelergebnisse sind durchaus neu und erwähnenswert, hätten jedoch noch prägnanter und thesenartiger zusammengefasst und formuliert werden können. Denn die Fragestellung ist zentral für die Kanonisierung der Kunstgeschichte und der musealen Sammlungen im ausgehenden 19. Jahrhundert: Über welche Wege und Argumentationsketten wurde das Idealbild der Antike in der Skulptur aufgelöst und durch ein modernes historistisch-relativistisches Konzept ersetzt? Und wie kam es zur Annäherung zwischen einem ethnografischen und kunstwissenschaftlichen Ansatz in der Einordnung von Skulpturen und Objekten aus außereuropäischen Zusammenhängen?
Mersmann kann mit ihren Studien verdeutlichen, dass besonders Viollet-le-Duc hier bei der Modifizierung eines kulturhistorischen Kanons eine Vorreiterrolle gespielt hat. Beispielhaft sei nur das Kapitel über Viollet-le-Ducs Herleitung der menschlichen Proportionsfigur nach Villard de Honnecourt aus dem 13. Jahrhundert herausgegriffen (105-116).
In Bezug auf den Umgang mit ethnografischer Kunst zeigte besonders Viollet-le-Duc einen für die heutige Zeit unhaltbaren "rassistischen" Ansatz, indem er die "sauvages" (die "Wilden") prinzipiell von der Fähigkeit, hochstehende Kunst herzustellen, ausschloss. Der Mediziner Hamy hingegen räumte jedem Menschen, egal welcher Herkunft und Hautfarbe, generell ein Talent zum künstlerischen Schaffen ein (259f.). Dennoch findet sich natürlich auch bei Hamy als Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ein Dreiphasen-Modell der künstlerischen Entwicklung, das die außereuropäische Kunst zunächst auf einer Stufe mit Kinderzeichnungen ansiedelte und einen zivilisatorischen Aufstieg nur durch erzieherische Maßnahmen der geistig überlegenen europäischen Kolonialmacht vorsah.
In ihrem Schlusskapitel greift Mersmann diesen zentralen Aspekt der Diskriminierung außereuropäischer Kunst im 19. und frühen 20. Jahrhundert wieder auf und projiziert diese Problematik auf aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit diesem Thema, wie z.B. bei der Ausstellung "Africa Remix. Zeitgenössische Kunst eines Kontinents", die 2004 im Düsseldorfer Museum Kunst Palast stattfand, der Neueröffnung des Musée du Quai Branly 2006 von Jean Nouvel, in dem sich heute die Bestände des Musée d'Ethnographie befinden, oder die Pariser Ausstellung "Des hommes sans histoire?" von 2006, die sich mit dem Kunstraub in der Kolonialzeit auseinandersetzte (281).
Insgesamt ist dieses Buch eine sicherlich sehr akribische und gründliche Studie zum wissenschaftlichen und museumspädagogischen Umgang mit Skulptur in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Aufschlüsse über ihre Protagonisten, allen voran Viollet-le-Duc, sowie über die Versuche einer Kanonisierung bietet. Dennoch bleiben die Ergebnisse und die abschließenden Auswertungen häufig zu tief in den vielen Einzeldetails und archivalischen Fakten verborgen.
Stefanie Lieb