Joachim Ehlers: Otto von Freising. Ein Intellektueller im Mittelalter, München: C.H.Beck 2013, 383 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-65478-7, EUR 29,95
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Otto von Freising, hochadliger Bischof, Zisterziensermönch und scholastisch geschulter Geschichtsschreiber, ist nach wie vor eine der faszinierendsten Autoren des hohen Mittelalters, dem Joachim Ehlers, 33 Jahre nach seiner grundlegenden Arbeit über Hugo von St. Viktor, eine als "Biographie" deklarierte Monographie gewidmet hat. In sechs Kapiteln werden nicht so sehr die Lebensstationen als vielmehr zunächst die multiplen Charaktere Ottos nachgezeichnet: als Student in Paris (Kapitel 2), Gelehrter (Kapitel 3) und Bischof (Kapitel 4), bevor sich die beiden letzten Kapitel seinen beiden Schriften widmen. Wenn Ehlers Ottos Biographie nicht mit seiner Geburt und Familie, sondern, mitten im Leben, mit einem ersten Kapitel über "Die Flucht" beginnt, so ist damit nicht nur ein entscheidender Wendepunkt, der - keineswegs spontan erfolgte - Eintritt in das Zisterzienserkloster Morimond, sondern zugleich ein Wesenszug Ottos markiert, der sich den ihm "in die Wiege gelegten" Karriereplänen seiner Familie am liebsten entzogen hätte, als Bischof aber doch in die Reichspolitik eingebunden blieb.
Kapitel 2 ("Paris") gibt einen hervorragenden, konzisen Überblick über die "Königsstadt", ihre Schulen, Magister und Scholaren sowie das geistige Klima des 12. Jahrhunderts: "Keiner der großen Lehrer war der Meinung, dass der rechte Glaube die Vernunft einschränke" (67) bzw., so darf man ergänzen: dass die Vernunft den rechten Glauben einschränke. Im Einzelnen werden Ottos (wahrscheinliche oder mögliche) Lehrer vorgestellt. Damit ist treffend der Rahmen für Ottos Pariser Studien skizziert, die sich deutlich auf den Gelehrten und "methodischen Denker" Otto (Kapitel 3) und seine Schriften auswirken. "Ottos persönliches Profil" sieht Ehlers (mit Nikolaus Staubach) in der - von mir selbst seinerzeit unterbelichteten - Vertrautheit mit Boethius, im Bewusstsein der Anfälligkeit der Wissenschaft gegenüber widersprüchlichen christlichen Dogmen sowie in der "Unabhängigkeit von konventionellen Anschauungen". (Bewusst) kurz geraten ist das vierte Kapitel über den Bischof Otto, da der Zisterziensermönch das geistliche Amt eher unwillig übernahm, dann aber doch die Rechte seiner Diözese gegen Wittelsbacher und Welfen verteidigte und die Stifte reformierte.
Die letzten Kapitel befassen sich mit den beiden Werken Ottos, den Ehlers nicht als Geschichtsschreiber begreift (und die er folglich auch nicht von dieser Seite her analysiert). Auch die viel beachteten Federzeichnungen führt er nicht auf Otto selbst zurück. Ihm geht es wiederum um den Niederschlag der Pariser Studien und um die philosophischen Botschaften. Aus dieser Sicht wird die "Geschichte der zwei Staaten" (Kapitel 5) - eine 'Gattung' der 'Historien', auf die Ehlers (mit K.F. Werner) zurückgreift, ist allerdings eine moderne, dem Mittelalter fremde Erfindung - zu "einem einzigen Aufruf zur Weltverachtung" (177), sind Ottos Reflexionen "sehr nahe dem westeuropäischen Zeitgeist" (192f.). Auch die 'Gesta Frederici' (Kapitel 6) bewertet Ehlers anders als bisher, bestätigt aber, konsequenter noch als die bisherige Forschung, die Gleichheit der Vorstellungen Ottos in beiden Werken, ohne sich allerdings mit anderslautenden Ansichten, etwa Elisabeth Mégiers, auseinanderzusetzen. Friedrich Barbarossas Königserhebung habe bei Otto keine Jubelrufe ausgelöst, seine Worte im Prolog seien vielmehr als Beschwörung seiner Wünsche zu deuten. Warum aber, so ließe sich kritisch fragen, hat Otto selbst um den Auftrag gebeten, wenn er von vornherein Vorbehalte hatte?
Insgesamt hat Ehlers ein bedenkenswertes Buch vorgelegt, das sich (natürlich) nicht auf neue Quellen stützen kann, aber eine konsequente, vor allem aus Ottos eigenen Werken heraus erarbeitete Analyse bietet - und die Wissenschaft darf dankbar sein, dass alle Belege dank der zahlreichen Anmerkungen am Ende des Bandes leicht auffindbar bleiben. Das Ergebnis ist nicht eine chronologische 'Lebensbiographie' - Otto wird erst auf Seite 20 geboren und stirbt schon auf Seite 131 -, sondern eine 'innere Biographie' als Analyse der in den Pariser Studienjahren erworbenen Gedankenwelt des Gelehrten Otto von Freising. Hier liegen für Ehlers die Quellen seiner philosophisch-theologischen Betrachtungen, die er überzeugend aufdeckt.
Bei solcher Schwerpunktsetzung tritt anderes zwangsläufig in den Hintergrund. Man wird Ehlers zunächst den Vorwurf nicht ersparen können, dass er die neueren Forschungen nur sporadisch zur Kenntnis nimmt. Er kennt weder die Bischofsbiographie von Kirchner-Feyerabend über Otto als Freisinger Bischof [1] noch die Arbeiten von Elisabeth Mégier zu den Unterschieden zwischen Chronik und Gesta. [2] Die dargestellten Sachverhalte selbst sind natürlich schon mehrfach behandelt worden, und ein einleitender, kurzer Überblick über bisherige Forschungen hätte dem weniger informierten Leser vielleicht den Eindruck erspart, hier wäre alles erstmals erarbeitet worden. Verzerrend wirkt sich in dieser Hinsicht zumal die 'Methode' aus, die Literatur vielfach nur dort zu zitieren, wo sie abweichende Ansichten vertritt, zumal der Rezensent an den ihn betreffenden Stellen oft gar keine grundlegend anderen Ansichten für sich reklamieren würde.
Auf einige inhaltliche Diskussionspunkte sei aber zumindest verwiesen. Die Stärke dieses Buchs, der konsequent geistesgeschichtliche Ansatz, bewirkt gleichzeitig gewisse Einseitigkeiten gegenüber dem Ziel einer Gesamtwürdigung Ottos. Man mag noch darüber streiten können, ob Ottos Geschichtsbild tatsächlich wenig originell ist (so 170), aber wenn Ehlers die bisherige Forschung als fehlgeleitet verwirft, weil sie die Qualität der Werke in Ottos geschichtstheologischen Ambitionen gesehen (171) oder sie als Verbindung von Geschichtsschreibung und Geschichtstheologie missverstanden habe (264), dann schlägt das Pendel hier nun zu einseitig in die andere Richtung. Weshalb sollte Otto sich die Mühe zweier umfänglicher Geschichtswerke machen, wenn er eigentlich nur seine philosophischen Ansichten proklamieren wollte? Ottos Leistung besteht ja gerade in deren Anwendung auf die Geschichte (und das ist nichts anderes als 'Geschichtstheologie'). Richtig ist aber, dass Otto nicht Geschichte um ihrer selbst willen erzählt (falls das überhaupt je ein Geschichtsschreiber getan hat), sondern seine Theorie am historischen Material verifizieren (so 169) bzw., wohl treffender, prüfen will, da Otto auch seinen eigenen Deutungen vorsichtig kritisch gegenübersteht. Skeptisch wäre ich auch gegenüber der Folgerung, Ottos Gott bestimme nicht jede Einzelheit - Otto selbst beteuert (Chron. 2,36) wörtlich das Gegenteil -, sondern der Mensch stehe für Otto im Zentrum der Geschichte (263), eine moderne, dem mittelalterlichen Denken so kaum gerecht werdende Differenzierung.
Einseitig erscheint es mir ferner, Otto so gänzlich von Geschichtstheologen wie Rupert von Deutz abzuheben, denn er verzichtet keineswegs auf Weltalter und Periodisierungen, wie Ehlers meint. [3] Wie wichtig auch ihm exegetische Auslegung und symbolische Ausdeutungen sind, bezeugen das gesamte achte Buch und die von Ehlers noch einmal ausführlich behandelte augustinische Civitas-Lehre. Dass Otto "gelegentlich auch banale Allegorese nicht verschmäht" habe (so 196), unterschätzt daher zweifellos deren Wert. Allegorie und Vernunft sind für den hochmittelalterlichen Denker eben keine Gegensätze. Im achten Buch "eliminiert" Otto auch nicht einfach "wuchernde Spekulationen" über die Endzeit (er tut auch das), sondern er diskutiert und ringt (konstruktiv) um das Wissbare dieses Ziels aller Geschichte. Otto erscheint mir geradezu als ein Modellfall für die Untrennbarkeit von 'Scholastik' und 'Monastik', eine allzu idealtypische Unterscheidung, die Ehlers noch einmal aufgreift, und als Vermittler, der die verschiedenen Ansätze seiner Zeit zu harmonisieren sucht - und auch das wäre nicht nur typisch für das 12. Jahrhundert, sondern auch für einen Teil der Pariser Gelehrten. Ottos ständiger Rat zur Weltverachtung macht ihn keineswegs zu einem "defensive[n] Außenposten im wissenschaftlichen Optimismus der Frühscholastik" (265). Otto ist hier nur vorsichtiger als Gilbert oder gar Abaelard, nicht zuletzt, weil er, wie Ehlers schließt, "ein Moralist im 12. Jahrhundert" ist.
Ehlers' Ottobiographie setzt eben andere Schwerpunkte: zum einen die Pariser Schulung, aus der heraus Ehlers immer wieder überzeugend Ottos Denken und Handeln erklären kann, und zum andern die ihn umgebende und beeinflussende, höchst bewegte Zeit. Damit sind, von 'innen' betrachtet, sowohl Ottos 'geistige Biographie' als auch, von 'außen' beleuchtet, deren Bedingungen glänzend erarbeitet. Hier liegen die leitenden Gesichtspunkte und Stärken dieser neuen Ottobiographie, hier ist ihr Verfasser 'zu Hause', und man würde sich wünschen, dass Ehlers diesem Werk noch eine umfassende Arbeit über die gesamte Pariser Gelehrtenszene des 12. Jahrhunderts anschließt. Niemand könnte das besser als er.
Anmerkungen:
[1] Cornelia Kirchner-Feyerabend: Otto von Freising als Diözesan- und Reichsbischof, Frankfurt a.M. u.a. 1990.
[2] Elisabeth Mégier: Tamquam lux post tenebras, oder: Ottos von Freising Weg von der Chronik zu den Gesta Frederici, in: Mediaevistik 3, 1990, 131-267 (abgedr. mit weiteren Aufsätzen zu Otto in: Dies.: Christliche Weltgeschichte im 12. Jahrhundert: Themen, Variationen und Kontraste. Untersuchungen zu Hugo von Fleury, Ordericus Vitalis und Otto von Freising, Frankfurt a.M. u.a. 2010).
[3] Vgl. dazu Fabian Schwarzbauer: Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius' Augustodunensis und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), Berlin 2005.
Hans-Werner Goetz