Wolfgang Hasberg: Von Chiavenna nach Gelnhausen. Zur Fiktionalität der Geschichte, Münster: Waxmann 2020, 106 S., ISBN 978-3-8309-4259-7, EUR 27,90
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Der Sturz Heinrichs des Löwen und dessen mögliche Anfänge bei dem Treffen des Herzogs mit Friedrich Barbarossa in Chiavenna zählte in der älteren Geschichtswissenschaft zu den Schlüsselereignissen des Mittelalters und bildet ein Musterbeispiel für eine Überprüfung der Tragfähigkeit der Quellenbelege. Wolfgang Hasberg, einer der wenigen Geschichtsdidaktiker, die dem Mittelalter besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, greift das Thema in seinem kleinen Buch als Fallbeispiel für die moderne, seit dem "linguistic turn" zentrale Frage nach einer "Fiktionalität der Geschichte" auf, um es zugleich als Seitenhieb gegen eine Geschichtstheorie im geschichtsleeren Raum abseits von konkreten Begebenheiten zu nutzen und das andersgeartete Geschichtsbewusstsein des Mittelalters zu verdeutlichen. Das sind große Ziele.
Beide Orte, Chiavenna, wo das gute Verhältnis zwischen Kaiser und Herzog 1176 erstmals zerbrach, und Gelnhausen, wo Heinrich der Löwe 1180 abgesetzt und geächtet wurde, sind zu wahrhaftigen 'Erinnerungsorten' geworden, obwohl sie in den einschlägigen Veröffentlichungen noch nicht daraufhin analysiert worden sind. Hasberg verdeutlicht das an einem Feuilletonartikel in der Zeitung "Die Welt".
Das zweite Kapitel untersucht den Fiktionscharakter: Dass an den Quellenberichten über Chiavenna vieles ausgeschmückt erscheint, war auch der älteren Geschichtswissenschaft bewusst, doch hatte sie die Historizität des Ereignisses nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen. Wie Hasberg aufzeigt, ergibt sich ein geschlossenes Bild der Vorgänge jedoch nur aus der Zusammenfügung der verschiedenen, keineswegs übereinstimmenden und jeweils in sich fragmentarischen Berichte. Der Ort selbst ist einzig bei Otto von St. Blasien, der Kniefall des Kaisers nur in den vier sächsischen (und entsprechend tendenziösen) Berichten bezeugt. Bei solcher Überlieferungslage sei der Vorgang nicht mehr rekonstruierbar. Eine gerade Linie zu Gelnhausen wiederum ergibt sich erst in der rückblickenden Historiographie. Gelnhausen war jedoch keine unmittelbare Folge von Chiavenna, sondern der Klage Heinrichs von 1178 gegen den Kölner Erzbischof und die westfälischen Bischöfe und Adligen wegen deren Einfalls in Westfalen (und der Gegenklage Philipps von Heinsberg) sowie des Nichterscheinens Heinrichs, das zur Acht und schließlich zum Verlust der Reichslehen und zur Aufteilung des sächsischen Herzogtums zwischen den Kölner Erzbischöfen und den Askaniern führte. Der gesamte Prozess begann hingegen schon weit früher (bereits mit der Wahl Friedrichs I. 1152) und endete erst später (1181). Resümierend bewertet Hasberg die Auseinandersetzung gegen die ältere Deutung eines dynastischen Gegensatzes zwischen Staufern und Welfen, wie sie grundsätzlich schon Werner Hechberger widerlegt hatte, als Konflikt, wendet sich aber auch gegen die jüngere Deutung eines ausgehandelten Konsenses mit dem Ergebnis, dass beides zu modern gedacht ist und nicht mit den Quellenaussagen übereinstimmt.
Mit der damit aufgeworfenen Frage nach der "Fiktion des Faktischen" geht es von hier an um Grundsätzliches. Folgerichtig befasst sich das dritte Kapitel mit "Fakten und Fiktionen - Phantasien und Illusionen (in) der Geschichtswissenschaft". Da die Wirklichkeit keine ontologische Gegebenheit ist - hier wäre allerdings hinzuzufügen: für mittelalterliche Autoren doch! -, ist die Aufmerksamkeit auf die mittelalterlichen Vorstellungen zu richten, die in die Darstellung in einer Weise einfließen, dass die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen auf allen Ebenen historischer Erkenntnis (Wahrnehmung, Deutung, Orientierung) verschwimmen. Das wirft (unter der Überschrift "Phantastische Praxis der Geschichtswissenschaft") die Frage nach einer veränderten Einstellung zu den Quellen auf: Johannes Frieds unglücklicher Begriff der "Theoriebindung" wird zu Recht als Prägung durch Vorstellungen und Einstellungen präzisiert - "Phantasie" ist allerdings nicht minder missverständlich -, die längst bewusste Zeitbindung der Geschichtswissenschaft und deren Rückwirkung auf die Darstellung (als "Re-konstruktion") wird ebenso in Erinnerung gerufen wie der Einfluss der historischen Methode. Der Schluss, dass Faktizität als Prinzip auf vormoderne Chroniken nicht anwendbar sei, erscheint mir hingegen voreilig, da gerade mittelalterliche Chronisten (ohne Kenntnis der modernen historischen Methode und ohne Bewusstsein der Zeitgebundenheit) das Faktum ganz in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt haben. Als "diskursiver Text", so Hasberg, kann die Darstellung der Geschichte sehr verschieden ausfallen und durch die Zeitgebundenheit muss die Geschichte immer wieder neu geschrieben werden, ist bei der Quellenauswertung aber letztlich deren Texten ausgeliefert.
Das vierte Kapitel zieht "geschichtsdidaktische Konsequenzen [aus] der fiktionalen Omnipräsenz im historischen Diskurs", die von der Gegenwart unbewusst auf die Vergangenheit übertragen wird: Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen sei erkenntnistheoretisch unhaltbar, stattdessen gehe es darum, die "Fiktionalität historischer Texte" wie auch des historischen Denkens offenzulegen, zu dekonstruieren und zugleich den Autor zu verstehen und ihm gerecht zu werden, um die Deutung nicht modernem Denken zu unterwerfen (was sicherlich leichter gesagt als getan ist). Das ist eine gewisse Rückkehr zur Hermeneutik, die Hasberg unter den Begriff "Kultivierung des Empathievermögens" fasst.
Diese Aufforderung zu reflektiertem Umgang mit den Produkten historischen Erzählens wird nun in einem letzten Schritt auf den Geschichtsunterricht übertragen, dessen Lernziel es sein müsse, historische Texte als fiktionale Texte zu erkennen. Von Hasberg kaum so gemeint, liegt darin doch eine gewisse Gefahr reiner Negation und eine Herabsetzung geschichtswissenschaftlicher Forschung. Wie solche Forderungen in der Schule zu erreichen sind, wäre allerdings noch zu klären. Hasberg fordert nur (zu Recht) die Kenntnis der kulturellen Diskurse des Mittelalters (wie des Kniefalls), aber auch, die konstruierten Texte als solche ernst zu nehmen.
In der engen Verknüpfung von der Geschichtswissenschaft zur schulischen Vermittlung liegt sicherlich ein Vorteil der Studie. Implizit zwar vorausgesetzt, müsste man wohl dennoch stärker zwischen der Arbeit der aktiv an der Geschichtsdarstellung wirkenden Historiker und der Arbeit der (passiv) nachvollziehenden (aber - aktiv - bewerten sollenden) Lehrer und Schüler unterscheiden. Eine "Reflexion des eigenen Tuns" (75) gilt zweifellos für beide, aber dieses "Tun" ist doch sehr unterschiedlich. Es ist aber auch zu vermuten, dass Schüler (und Lehrer!) mit den hier berechtigterweise vorgetragenen Vorschlägen überfordert sind, wenn selbst spezialisierte Historiker bei der Wertung von Chiavenna Probleme haben.
Ein so engagiertes, im Schluss noch einmal bündig zusammengefasstes Plädoyer ruft zwangsläufig auch einige Widerstände hervor. Schon die Begrifflichkeit ("Fiktionalität") führt leicht zu Missverständnissen, da es fast durchweg um Einflüsse auf die Darstellung, nicht aber um freie literarische Erfindungen geht. Eine Bindung an das Faktische der Geschichte bleibt - gerade auch in der Überzeugung mittelalterlicher Autoren - stets vorhanden. Daher sollte schon der (Unter-)Titel besser nicht "Zur Fiktionalität der Geschichte", sondern der "Geschichtsdarstellung" lauten. Denn nur um diese geht es. Der zu Recht hervorgehobene Einfluss unserer Vor- und Einstellungen auf die Darstellung ist ein ganz wesentlicher Faktor, während es verunsichert, genau das als "Fiktionen" zu bezeichnen, und Leitbegriffe wie "Phantasie" und "Einbildung" für die methodische Herangehensweise erwecken allzu leicht den Eindruck, dass die "Phantasie" des Historikers sich in nichts von der notwendigen Phantasie eines Literaten unterscheidet. Tatsächlich geht es um ein Aufdecken der unbewusst in die Deutungen hineingetragenen [Zeit-]Vorstellungen (wie es zuvor an Chiavenna aufgezeigt wurde). Um die Text gewordenen Vorstellungen zu erfassen, bedarf es natürlich nach wie vor eines methodischen Vorgehens.
Es geht damit aber auch um mehr als die Begriffe (die man definieren könnte). Die mit Jörn Rüsen in die Geschichtstheorie eingeführte Gleichsetzung von Geschichte und Geschichtsdarstellung erweist der Geschichtswissenschaft tatsächlich einen Bärendienst, da sie die Darstellung zum alleinigen Maßstab erhebt und sich deren Kontrolle entledigt. Es muss vielmehr darum gehen, sich der Erkenntnisgrenzen bewusst zu bleiben, sie zu thematisieren und Folgerungen zu erörtern. Die dieser Forderung Rechnung tragende Hinwendung zur Vorstellungsgeschichte hat dem Faktum jedoch keineswegs, wie Hasberg meint, die Existenz streitig gemacht (zumal auch die Vorstellungen selbst ein "historisches Faktum" sind), während ihre Darstellung (und deren Analyse!) denselben Befangenheiten unterliegt wie jede Geschichtsdarstellung. Die "vergangenen Wirklichkeiten" sind nicht "Text gewordene(n) Vorstellungen" (so 81), sondern sie lassen sich nur aus den Text gewordenen Vorstellungen erfassen.
Hasbergs sehr wichtige, kleine Studie ist trotz der vorgebrachten Kritikpunkte unbestritten ein Lehrstück für den Umgang der Geschichtswissenschaft mit Quellen und "Fakten". Zu fordern, die theoretischen Folgerungen des zweiten Teils (über die mehrfachen bloßen Verweise hinaus) noch einmal stärker an dem Auswertungsbeispiel zu verdeutlichen, hieße wohl Übermenschliches zu erwarten, denn eine schlüssige Zusammenbindung von "Theorie" und "Praxis" in der Geschichtswissenschaft ist bislang überhaupt noch niemandem wirklich gelungen.
Hans-Werner Goetz