Judith Becker / Bettina Braun (Hgg.): Die Begegnung mit Fremden und das Geschichtsbewusstsein (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 88), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 306 S., ISBN 978-3-525-10112-4, EUR 54,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Kerstin Armborst-Weihs / Judith Becker (Hgg.): Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Bettina Braun: Princeps et episcopus. Studien zur Funktion und zum Selbstverständnis der nordwestdeutschen Fürstbischöfe nach dem Westfälischen Frieden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Geschichtsbewusstsein, Periodisierungen und verschiedene Konzepte von Zeit bewegen die aktuelle Diskussion in den Geschichtswissenschaften. [1] Daher trifft das anzuzeigende Buch einen Nerv der Zeit. Die Herausgeberinnen des aus einer 2010 am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte veranstalteten Tagung hervorgegangenen Sammelbands gehen in ihrer Einleitung von einer einschneidenden Wirkung der Erfahrung des Fremden auf das jeweilige Zeit- und Geschichtsbewusstsein aus und legen dabei eine relativ eindeutige Dichotomie des Eigenen und des Fremden zugrunde, die die in vier Sektionen gruppierten Aufsätze mit unterschiedlichen theoretischen, zeitlichen und geografischen Schwerpunkten zugrunde legen.
Unter der Überschrift "Grundsatzreferate" sind den übrigen empirischen Aufsätzen drei theoretisch-methodische Beiträge vorangestellt. Rudolph Stichweh nimmt die Rolle des Fremden für die Selbstbeschreibung von Gesellschaften unter systemtheoretischer Sicht in den Blick, Theo Sundermeier nähert sich dem Rahmenthema der Tagung mit Ansätzen und Verfahren der Theologie. Beide Texte sind für die Fassung des Begriffs des Fremden sinnvoll, blenden jedoch die Frage von Zeit und Geschichtlichkeit aus, obwohl doch mit Johannes Fabian wichtige Impulse in dieser Richtung gerade aus der Ethnologie kommen. [2] Walter Jaeschke füllt diese Leerstelle bis zu einem gewissen Grad mit seinem Aufsatz über das Verhältnis von Fremdheitserfahrung und Geschichtsbewusstsein bei Hegel. Er hebt hervor, dass Geschichtsbewusstsein nur unter spezifischen Kulturbedingungen entstehe und ein entscheidendes Umschlagen von der historia zu einer eigentümlichen Geschichte erst am Ende des 18. Jahrhunderts stattgefunden habe. Die Begegnung mit dem Fremden, aber auch die Gleichsetzung fremder Kulturen mit der eigenen (europäischen) Vergangenheit sei hierbei maßgeblich gewesen. Die Transformationsschritte von einer Wahrnehmung des Fremden über eine Temporalisierung kultureller Differenz hin zu dem modernen westlichen Geschichtsbewusstsein problematisiert er jedoch nicht.
Die übrigen Beiträge sind in drei Sektionen zu Fremdheit im eigenen Land (II), Fremdheit im anderen Land (III) und zur Rezeption des Fremden (IV) untergliedert.
Zunächst blickt Maret Keller auf die Kontaktzone zwischen Spaniern und Andenbevölkerung im 16. Jahrhundert. Erfrischend bestreitet sie die Relevanz der klassischen Dichotomien wie "Eigen" und "Fremd" und betont stattdessen, dass die zeitgenössische Definition dieser Einheiten Teil der Untersuchung sein müsse. Bei der Analyse zweier kolonialzeitlicher Darstellungen der andinen Geschichte und deren Zeitkonzepten erkennt Keller nicht nur eine Übermächtigung, sondern durchaus auch eine Aushandlung. Beide Texte beschreiben Fremdheit und schreiben diese fest, auch wenn sie noch keine temporale Dimension hat. Ebenfalls gegen die Dichotomie der Sieger und Besiegten in der Conquista-Geschichte argumentiert Anja Bröchler: In der Spannung zwischen Text und Illustrationen erweist sich der von ihr untersuchte Florentiner Codex als eine diskursive Kontaktzone, die deutlich mehr als eine Siegergeschichte, nämlich auch eine indigene Instrumentalisierung der Geschichte für die koloniale Gegenwart und deren transkulturelle Dimension produziert. Auf den westlichen Orientalisten oder Sinologen als fremden Akteur, gegen den im modernen China eine eigene Geschichtswissenschaft entwickelt wurde, blickt Perry Johansson, wobei er den Kampf um die Geschichtsdeutung, um Identität und Rasse in den Vordergrund rückt, der in der Wieder-Erschaffung einer chinesischen Meistererzählung gipfelt. Der Beitrag von Eno Blankson Ikpe über den Kulturkontakt von Europäern und den Ibibio in Ostnigeria erweitert den geografischen Zuschnitt des Bandes auf Afrika.
Mit Fremdheit im anderen Land beschäftigt sich zunächst Viviane Rosen-Prest in ihrem Beitrag über die sich wandelnde Geschichtsschreibung der Hugenotten in Brandenburg-Preußen. Mit Bezug auf Stichweh erklärt die Autorin, weshalb gerade die narrative Nutzbarmachung der Fremden für eine Gesellschaft die besondere ideologische Aufladung der Hugenottenthematik erklärt. Carsten Schliwski zeigt mit seiner Analyse des Werks von Joseph ha-Kohen (1496-1577), dass im klassischen, sich auf Moses ben Maimon beziehenden jüdischen Denken Geschichte im heutigen Sinne keinen Raum hatte. Sie wurde vielmehr in der heilsgeschichtlichen Rahmung als irrelevant angesehen. Erst nach der Vertreibung von der iberischen Halbinsel erlebte jüdische Geschichtsschreibung eine neue Höhe. Die eigene und die fremde christliche Geschichte standen bei ha-Kohen unverbunden nebeneinander. Die Übersetzungen anderer Werke dienten aber der Stärkung der jüdischen Identität im zweifachen Exil. Kerstin Armborst-Weihs untersucht die Bedeutung der Begegnung mit dem Ostjudentum für das Geschichtsbewusstsein deutsch-jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg und versteht die Differenz explizit als eine zeitliche, die in einen Geschichtsverlauf eingeordnet werden muss. Judith Becker widmet sich sodann dem Geschichtsverständnis pietistischer Missionare im 19. Jahrhundert und zeigt, dass Begegnungen des Fremden im Missionskontext deren Endzeiterwartung nicht veränderten, sondern bestärkten. Becker bricht dabei mit der These eines homogenen Umschlagens des europäischen Geschichtsbewusstseins am Ende des 18. Jahrhunderts und greift so über die ursprüngliche Konzeption des Bandes noch hinaus.
Im dritten thematischen Abschnitt rückt Wissensproduktion durch die gemachte Erfahrung des Fremden für den allgemeineren europäischen Diskurs in den Vordergrund. Felix Widermann nimmt die Repräsentation der Beduinen um 1900 in den Blick und zeigt sowohl bis in den heutigen Alltagsdiskurs fest etablierte Erzählmuster als auch deren oft vernachlässigte Ambivalenz. So reichte die Beurteilung von der Zerstörungskraft des Nomadentums bis zum Beduinen als Edlen Wilden und verband sich zudem mit dem aufkommenden Antisemitismus. Auch dieser Beitrag bricht die Teleologie der Entstehung eines Geschichtsbewusstseins in der Auseinandersetzung mit dem Fremden auf und weist stattdessen auf die zeitgebundene und wechselnde Instrumentalisierung des Fremden für das jeweilige Geschichtsbewusstsein hin. Der Darstellung afrikanischer Christen widmet sich Jeffrey Jaynes. Differenziert stellt er dar, wie Reiseberichte in anderen, in Europa produzierten Genres wie Karten und Kosmografien verarbeitet wurden und wie sich dabei Mythen und neuere Informationen vermischten. Die besondere Spannung des Afrikathemas resultiert nicht zuletzt daraus, dass in den Kreis der Quellen mit al-Hassan Ibn Muhammad al-Wazzan (Leo Africanus) ein konvertierter Moslem aufgenommen wurde. Er bietet nicht nur eine komplexere Sicht auf afrikanische Christen, sondern enthält auch kaum einen der liebgewonnenen Mythen wie den Priesterkönig Johannes. Diese Leerstelle lässt umso deutlicher werden, wie lange überkommende Narrative im innereuropäischen Diskurs vorherrschten. Simon Mills thematisiert die Berichte englischer Geistlicher aus der Levante im 17. und 18. Jahrhundert sowie ihre Verflechtungen mit den Diskussionen in Europa. Er zeigt, wie die Erfahrungen im Heiligen Land zu veränderten Übersetzungen und Interpretationen mancher Bibelstellen führten. Mit frühneuzeitlichen Kunstsammlungen und dem Zusammenhang zwischen Fremdheit und historischer / zeitlicher Differenz sowie dessen Auswirkungen für das europäische Geschichtsbewusstsein setzt sich schließlich Dominik Collet auseinander. Die biblische Heilsgeschichte war der Rahmen für die Wahrnehmung und Ordnung der in den frühen Museen ausgestellten Materialisierung des Fremden und konnte eine Entwicklung des Geschichtsbewusstseins anregen wie begrenzen. So war einerseits die Wissensproduktion umso erfolgreicher, wenn sie in den altbewährten Bahnen blieb, wie die Gegenüberstellung von Caspar von Schmalkalden und Johann Michael Wansleben zeigt. Andererseits erlaubte im Gothaer Federkrieg gerade die biblisch festgeschriebene global geteilte menschliche Geschichte Funde in der Nähe von Gotha, die an Bekanntes aus anderen Weltgegenden erinnerten, als prähistorische Objekte zu identifizieren.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Schlusskommentar von Wolfgang Reinhard, der betont, dass eine Veränderung des jeweiligen Geschichtsbewusstseins durch die Begegnung mit dem Fremden in den Ausgangsgesellschaften letztlich nicht oder nur sehr randständig in den Beiträgen nachgewiesen werden konnte. Bereits auf der dem Band zugrundeliegenden Konferenz sei immer wieder betont worden, dass die Fremdheit der Fremden von den frühneuzeitlichen Reisenden oft gar nicht als solche aufgefasst wurde. Reinhard schlägt daher vor, über das Begriffspaar Identität und Alterität hinauszugehen und zu fragen, ob Fremdheit überhaupt wahrgenommen wurde. Ähnliches gilt für die Gleich- und Ungleichzeitigkeit, die nicht von Anfang an Teil der Fremdwahrnehmung war. Co-Evalness bedeutet sicherlich nicht Gleichheit, aber erst mit der Wahrnehmung der Ungleichzeitigkeit kann sich, so jedenfalls die Meinung der Rezensentin, das moderne Geschichtsbewusstsein entwickeln.
Auch diesem Sammelband hätte es gut getan, wenn sich die Autoren deutlicher mit dem vorgegebenen Konzept von Geschichtsbewusstsein auseinandergesetzt hätten, doch solch eine Kritik ist wohlfeil, denn der Band hat ein wichtiges Thema anregend und facettenreich aufgearbeitet. Die chronologische Weite und große Vielfalt der Themen über traditionelle Epochengrenzen und die Aufnahme außereuropäischer und europäischer Beispiele gehören zu seinen Stärken.
Anmerkungen:
[1] Siehe z.B. Helge Jordheim: Against Periodization: Koselleck's Theory of Multiple Temporalities. History and Theory, 51 (2012), 151-171; Achim Landwehr (Hg.): Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012; Kathleen Davis: Periodization and Sovereignty. How Ideas of Feudalism and Secularization Govern the Politics of Time, Philadelphia 2008.
[2] Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology makes its Object. New Edition with a new Foreword by Matti Bunzl, New York [u.a.] 2002.
Antje Flüchter