Boris Röhrl: Realismus in der bildenden Kunst. Europa und Nordamerika 1830 bis 2000, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2013, XI + 337 S., ISBN 978-3-7861-2683-6, EUR 49,00
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Boris Röhrls Habilitationsschrift zum west- und osteuropäischen sowie nordamerikanischen Realismus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zeichnet sich im Verhältnis zu früheren zusammenfassenden Darstellungen zum Realismus vor allem durch die systematische Vorgehensweise und die Vollständigkeit der aufgeführten theoretischen und künstlerischen Ansätze aus. Das in enzyklopädischer Breite chronologisch und jeweils im Rahmen nationaler Kulturen entwickelte Thema dürfte als Nachschlagewerk nützlich sein, im Ganzen gelesen aber viele Rezipienten überfordern. Eine Einführung in den deutschen Naturalismus (54-62) findet man ebenso wie eine Darstellung der frühsozialistischen Kunst in Belgien (105-110), des "heroischen Realismus" in der sowjetischen Kunst (134ff.), des Fotorealismus in den USA (265-269) und einen Ausblick in jüngste Entwicklungen realistischer Tendenzen in Indonesien, China und Südafrika (290-293).
Das theoretische Fundament für dieses Überblickswerk basiert auf Röhrls Dissertation zur Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus. Historische Entwicklung, Terminologie und Definitionen. [1] Insbesondere seine zentrale Unterscheidung zwischen dem Realismus "als epochenübergreifendes Prinzip" und "als Stilbegriff [im Original kursiv]" [2] wird in beiden Publikationen strikt durchgehalten (19) und dies trägt wesentlich dazu bei, dass Röhrl vielen Begriffswiederholungen und thematischen Überschneidungen zwischen den einzelnen Kapiteln und Textabschnitten zum Trotz die Trennschärfe dessen, was er die "systematische Bedeutungsebene" (29) des Realismus nennt, nicht verlorengeht.
Röhrl unterteilt seine Untersuchung zum Realismus in vier Zeitfelder: die frühsozialistischen Anfänge in den 1830er-Jahren vor allem in Frankreich bis zum Ende des ersten Weltkriegs, von 1918 bis zum Aufstieg der Pop Art 1960, von 1960 bis zum Ende der deutschen Teilung 1989 und von 1990 bis in die Gegenwart. Innerhalb der Zeitfelder werden in unterschiedlicher Reihenfolge landesspezifische Entwicklungen aufgezeigt, von 1830 bis 1917 zum Beispiel: Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland, USA, gefolgt von einem Exkurs zur sozialistischen Kunsttheorie in Frankreich, Deutschland und England und den historischen Entwicklungen sozialistischer Kunst wiederum nach Ländern: Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland.
Wer also nur den ersten Teil, "Realismus 1830-1917" liest, wird bereits dreizehn unterschiedliche Länder-Darstellungen studiert haben, welche sich ihrerseits mit diversen Akzentuierungen dem Gegenstand in vier Deutungskategorien nähern: "Realismus als gegenständlich-neutrale Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, Realismus als genrehafte Darstellung der modernen Welt (als Dokumentation des sozialen Lebens), Realismus als Kritik" (296) sowie Realismus als "sozialistischer Realismus" (303f.). Diese durchaus schematisch angewendeten Kategorien sind, so kann man nach der Lektüre des Buchs von Röhrl resümieren, in der Kunstgeschichte des Realismus selten in reiner Form anzutreffen. Vielmehr bestand Röhrls Sisyphos-Arbeit darin, mit Blick auf einzelne Werke bis zu übergreifenden nationalen Prägungen der bildenden Kunst die jeweils erkennbaren Mischungsverhältnisse der genannten und vieler weiterer Deutungsperspektiven zu bestimmen.
Hervorzuheben ist, dass es Röhrl weitgehend gelingt, seinem Anspruch, "[d]ie verschiedenen Theorieansätze [...] gleichwertig und neutral in ihrer ganzen Komplexität" darzustellen [3], zu entsprechen. Es mag zwar fast selbstironisch anmuten, wenn Röhrl konstatiert, erst die heutige politische Bedeutungslosigkeit des Realismus habe den Weg für ein neutrales kunstwissenschaftliches Urteil frei gemacht [4], aber insbesondere mit Blick auf den sozialistischen Realismus scheint es frühestens seit der deutschen Wiedervereinigung realistisch zu sein, staatlich verordnete Propaganda-Kunst auch unabhängig von ideologischen Kämpfen betrachten zu können. So ist es Röhrls Verdienst, gegen "die Tendenz, den sozialistischen Realismus als ein isoliertes Phänomen zu betrachten" argumentiert und ihn stattdessen "als integrale[n] Bestandteil einer Weltgeschichte des Realismus begriffen" zu haben (122).
Allerdings gibt Röhrl stellenweise seine 'Neutralität' auf. Wenn er im Abschnitt "Realismus in den USA" schreibt: "Man kann eine klare Terminologie bezüglich des Realismus angeben. Wie im Englischen gilt auch in der amerikanischen Umgangssprache Realism [im Original kursiv] als Synonym für 'gegenständliche Kunst mit einer vertieften Räumlichkeit', die der normalen Perzeption des Individuums entspricht" und auf derselben Seite fortsetzt: "Die generelle Struktur dieser Arbeit [ist] an der amerikanischen Terminologie angelehnt" (197), dann wird erkennbar, dass Röhrl durchaus eigene Prioritäten setzt, die sich auch mit bestimmten Tendenzen innerhalb der Geschichte des Realismus zusammendenken lassen. Die Formel von der "vertieften Räumlichkeit" als Kennzeichen von Realismus kehrt zwar fast notorisch wieder, was eine "normale" menschliche Wahrnehmung sei und ob sie es ist, die auf zweidimensionalen Flächen wiedergefunden werden kann, wird von Röhrl nicht hinterfragt. Stattdessen werden Schwierigkeiten des Autors erkennbar, den Begriff des Realismus zu konturieren. Diese Grenzbereiche begrifflicher Definitionsmacht beklagt Röhrl vielfach selbst, so beispielsweise in Bezug auf den Realismus in Großbritannien von 1918-1959: "Es ist schwierig, innerhalb des weit gefächerten Spektrums der gegenständlichen Kunstströmungen spezifische Arten des Realism [im Original kursiv] zu benennen, da britische Autoren dieses Wort meist undifferenziert auf alle figurativen Kunstformen übertragen haben, die eine vertiefte Raumwirkung zeigen" (168).
Auch in Bezug auf überraschende Werturteile Röhrls ist in einigen Fällen keine Neutralität mehr gegeben. Weshalb zum Beispiel werden die Wandmalereien des US-amerikanischen Förderprogramms PWAP (Public Works of Art Project) niederschmetternd kritisiert: "In den meisten Fällen sind die Motive trivial und klischeehaft. Die künstlerische Qualität der Wandbilder ist teilweise niedrig" (200), der späte sozialistische Realismus in der Sowjetunion wird hingegen bloß mit der unspezifischen Bemerkung charakterisiert, im "letzten Jahrzehnt des Bestehens der Sowjetunion" sei "ein Pluralismus an gegenständlichen Ausdrucksformen" entstanden und es sei "kein einheitlicher Stil mehr festzustellen" gewesen? Selten aber entgleiten pauschalisierende Behauptungen ohne Fußnotenbeleg (andernorts vielzählig vorhanden) so deutlich wie in Röhrls Nachsatz zu seinem Kommentar zur antifaschistischen Kunst Hans und Lea Grundigs in der Zeit des Nationalsozialismus: "[E]s soll [...] nicht der Eindruck erzielt werden, als hätten sich viele der in Deutschland gebliebenen Künstler und Intellektuelle gegen das Dritte Reich ausgesprochen. Der Begriff 'innere Emigration' wird oftmals zu unrecht eingesetzt, um bloßen Opportunismus zu kaschieren" (191).
Aber das sind Einzelfälle. Angesichts der oftmals einseitigen und vereinfachenden, ideologisch geprägten oder moralisierend argumentierenden Literatur zum Realismus [5] bietet die Gesamtdarstellung des europäischen und nordamerikanischen Realismus Boris Röhrls, die Inkunabeln der Kunstgeschichte wie Gustave Courbets "Steineklopfer" (1848) ebenso fundiert und in Kenntnis des umfangreichen Forschungsstands vorstellt wie den sozialistischen Realismus in Frankreich zur Zeit der Jahrhundertwende, den italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit oder den New Realism in den USA der 1960er-Jahre, ein umfangreiches Kompendium, das für lange Zeit konkurrenzlos bleiben dürfte und den Anstoß für viele zukünftige Einzeldarstellungen geben kann.
Anmerkungen:
[1] Boris Röhrl: Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus. Historische Entwicklung, Terminologie und Definitionen, Hildesheim / Zürich / New York 2003.
[2] Ebd., 5.
[3] Ebd., 12.
[4] "Heute, da die Auseinandersetzung um [sic!] den Realismus an politischer Aktualität verloren hat und kein bestimmter Nutzen von der Beschäftigung mit diesem Zweig der Kunsttheorie zu erwarten ist, scheint eine objektive Darstellung möglich zu sein" (12).
[5] Vgl. z.B. meine Rezension von: Gabriel P. Weisberg (Hg.): Illusions of Reality. Naturalismus 1875-1918, Stuttgart 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], http://www.sehepunkte.de/2012/10/20102.html, abgerufen am 03.03.2014.
Marvin Altner