Georg Strack: Thomas Pirckheimer (1418-1473). Gelehrter Rat und Frühhumanist (= Historische Studien; Bd. 496), Husum: Matthiesen 2010, 383 S., ISBN 978-3-7868-1496-2, EUR 56,00
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Strack untersucht den promovierten Juristen, Kanoniker mehrerer Stifte, herzoglich-bayerischen Rat und Diplomaten Thomas Pirckheimer, einen Bruder des Hans Pirckheimer (gestorben 1492), des Großvaters Willibalds (1470-1530). Eingangs markiert Strack (21-27) die Stellung der Generation des Thomas in der Geschichte der Nürnberger Pirckheimer, die sich von den Handelsgeschäften, die die Familie reich gemacht hatten, in den 1430er Jahren abkehrte und sich politischen Aktivitäten und gelehrten Interessen widmete. Der Untertitel der Arbeit bezeichnet mithin eine Lebens- und Erwerbsform, die eine Alternative zu den bisherigen Tätigkeiten der Pirckheimer darstellt, er ist also keineswegs nur individuell-biographisch zu verstehen.
Der Verfasser nutzt systematisch die Chance der biographischen Methode, einerseits den sachlich unterschiedenen Handlungsfeldern der Person jeweils auf den Grund zu gehen und anderseits ihren lebensweltlichen und erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang herauszuarbeiten. Dabei vermittelt die Mesoebene, auf der diese Funktionseliten angesiedelt sind und auf der ihre Erforschung ansetzt, zwischen Praxis und Struktur; die Spielregeln der soziopolitischen Kultur werden in ihrer Anwendung real und beschreibbar. Deshalb ist die minutiöse Rekonstruktion von Pirckheimers Agieren und Interagieren aus den archivalischen und bibliothekarischen Quellen, mit der Strack brilliert, kein biographischer Pedantismus.
Er untersucht fünf Tätigkeitsfelder: Universitäten, Fürstenhof, Kurie, Reichsstadt und Kirchen (an denen Pirckheimer bepfründet ist). Dabei widmet er systematisch den wichtigsten Ressourcen Pirckheimers konstante Aufmerksamkeit: den sozialen Verflechtungen und der gelehrten Kompetenz. Letztere ist bei Thomas Pirckheimer - anders als bei seinen Zeitgenossen Ulrich Riederer oder Hertnidt von Stein - eine doppelte: Pirckheimer ist Jurist und Humanist. Der humanistischen Kompetenz, ihrem Erwerb, ihrer spezifischen Ausprägung und ihrer Anwendung, widmet Strack nach "Familie und Studium" (Kap. II, 21-53) und der "Karriere als gelehrter Rat" (Kap. III, 54-187) ein eigenes, ausführliches Kapitel (IV, 188-260). Der die Anmerkungsnachweise entlastende Anhang mit ungekürzten lateinischen und deutschen Quellentexten (268-298) - Gesandtenberichten, Ratschlägen und (kurzen) Reden - und Tabellen zur Überlieferung von Humanistentexten (299-301) dokumentiert ebenfalls diese doppelte Kompetenz.
Rang und Vermögen der Nürnberger Ratsfamilie Pirckheimer (21-27) stellt eine wichtige soziale und ökonomische Ressource dar sowohl für die Ausbildung an zwei deutschen und drei italienischen Universitäten als auch für die Ratskarriere. Nürnberger Vermittlung bahnte Thomas den Weg an den Münchner Hof (54), das Vertrauen der Ratsherren führte zu jahrelanger Tätigkeit für seine Heimatstadt (1449-1460). Als ergiebigste Gelegenheit, ein eigenes Netz von Freundschafts- und Klientelbeziehungen zu knüpfen, erweist Strack aber das Studium (28-53). Es lässt sich gar nicht entscheiden, ob die erworbenen wissenschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten in der Jurisprudenz und der Rhetorik oder die gelungene Integration in die soziale Welt der Juristen und Humanisten der späteren Karriere förderlicher waren.
Das lange III. Kapitel untersucht Pirckheimers Tätigkeiten als gelehrter Rat (54-187), sie erscheint als "Karriere" mit "Aufstieg" 1447-1458 (54-96), "Höhepunkt" 1458-1461 (97-141), "Rückschlägen" und dem Ende des aktiven Ratsdienstes 1463/64 (142-151), dem "Rückzug nach Regensburg" (142-170). Neben der Ratstätigkeit für Herzog Albrecht III. von Bayern-München, für die Stadt Nürnberg, die Kurie und das Regensburger Domkapitel hatte Pirckheimer natürlich auch in eigener Sache Pfründenpolitik zu betreiben. Strack fügt sie in die Chronologie der Ratskarriere ein und markiert gegebenenfalls Synergieeffekte und Kollisionsgefahren im Verhältnis zur amtlichen Tätigkeit, gibt aber am Ende des III. Kapitels auch eine zusammenfassende Darstellung mitsamt einer genauen Berechnung der Pfründeinkünfte (173-187). Schließlich ist solche Teilhabe am Kirchengut ein wesentliches Ziel der Juristenkarriere eines Geistlichen.
Zwischen 1448, als Pirckheimer die Obödienzrede für Herzog Albrecht III. vor Papst Nikolaus V. hielt - sie ist im Anhang (270 f.) aus seinen eigenen Papieren abgedruckt -, und 1462 hat er sehr oft, in manchen Jahren mehrfach die Kurie in Rom, in Siena und Mantua aufgesucht. Als seine Patrone fungierten die Kardinäle Juan de Carvajal und Nikolaus von Kues, seit 1452 auch Enea Silvio Piccolomini, vor dem als Pius II. er 1458 die Obödienzrede für Herzog Albrecht hielt. Doch die großen Namen allein vermitteln nicht den zutreffenden Eindruck. Es ist vielmehr ein wesentliches Verdienst der Untersuchung, die personelle Breite und Differenziertheit des Beziehungsnetzes freizulegen, in dem und mit dem Pirckheimer an der Kurie und am Herzogshof arbeitete und die vielfältigen Aufträge durchführte. Als er 1471 während des "Großen Christentages" den päpstlichen Legaten Francesco Todeschini-Piccolomini in seinem Regensburger Haus beherbergte, demonstrierte er ein letztes Mal Kurienkontakte (167-170), war zu dieser Zeit aber selber, obgleich erst 53jährig, gesundheitlich nicht mehr in der Lage, nach Rom zu reisen (171).
Pirckheimers Ratskarriere ist natürlich nicht nur von Erfolgen gekennzeichnet, sondern wird durchzogen von - mit derselben Sorgfalt dargestellten - vergeblichen Initiativen, Rückschlägen und Misserfolgen; der gewichtigste betrifft die Nachfolgepolitik Albrechts III. Die eigene Pfründenkarriere zieht ebenfalls keine gerade Spur. Die zusammenfassende Darstellung (173-187) zeigt den Experten der Regeln und Praktiken des Pfründenmarktes, sie lässt also auch die Vorteile erkennen, die er aus amtlichen Tätigkeit ziehen konnte; ebenfalls zeigt sie Bedeutung der sozialen Verflechtungen auch hier, freilich auch die Grenzen; denn "jenseits der erprobten Klientelverbindungen" konnte er nicht Fuß fassen (187).
Das letzte große Kapitel, "Thomas Pirckheimer und der frühe Humanismus" (188-260) bietet in einem ersten Teil die Interpretation der von Pirckheimer angelegten und teilweise von ihm selbst geschriebenen Sammelhandschrift Codex Arundel 138, einer seit Ludwig Bertalot mehrfach gerühmten, aber noch nicht systematisch untersuchten Anthologie von Texten Ciceros und italienischer Humanisten. Ihren Schwerpunkt bilden in Pavia gesammelte Texte, die Pirckheimers dortige Humanismusstudien dokumentieren. Die Handschrift ist ein Gegenstück zu den juristischen Cod. Arundel 427, einem frühen, von Strack in die Erfurter Zeit gesetzten Dokument der kanonistischen Studien (33), und Arundel 424, großenteils eigenhändigen Mitschriften von Perusiner Digesten- und Dekretalenvorlesungen (47 f.). Im zweiten Teil des Humanismus-Kapitels untersucht Strack Pirckheimers rhetorische Praxis: seine lateinischen Reden als Rektor in Perugia und die Obödienzreden vor Nikolaus V. und Pius II. in Rom sowie seine deutschen Gesandtenberichte. Die Zeugnisse der lateinischen Redepraxis sind Anwendungen der in Italien erworbenen Rhetorik, Pirckheimer hat sie z.T. in seine humanistische Sammelhandschrift aufgenommen.
Zunächst rekonstruiert Strack mittels einer kodikologischen Untersuchung die ursprüngliche Anlage des Cod. Arundel 138. Dafür bietet außer den Wasserzeichen die von Thomas verfasste und seinen Texten vorangestellte tabula (1r-3v) eine sichere Grundlage. Da sie die Texte zugleich charakterisiert, kann Strack die tabula als aussagekräftiges Rezeptionszeugnis (als sein "Textgedächtnis") nutzen. So hat Pirckheimer die am Anfang stehenden drei Reden Ciceros als Vorbilder der drei Redegattungen gelesen, und von den Texten der Paveser Frühhumanisten rücken die Universitätsreden des Baldassare Rasini, der besonders großen Einfluss auf ihn hatte, in den Vordergrund. Auch die Rezeption von Texten Guarinos, Brunis, Beccadellis und Poggios kann Strack dank der doppelten Bemühung des auswählenden Sammlers und memorierenden Annotators Pirckheimer in aufschlussreicher Weise profilieren.
Die oratorische Praxis Pirckheimers zeigt diesen bereits als Rektor von Perugia mit der frühhumanistischen Universitätsrhetorik vertraut. Nebenbei macht Strack wahrscheinlich (240 f.), dass der wiederholte Gebrauch derselben Rede oder Redeteile sehr wohl zur Praxis der vom Rektor zu haltenden Graduierungsreden gehören dürfte. Auch in seiner zweiten Obödienzrede benutzt er in Teilen seine erste. Recht plausibel vermag Strack Pirckheimers Rezeption von Rasinis humanistischem Städtelob (204 f.) und Fürstentugendpreis (205 f.) in seinen deutschsprachigen Gesandtenreden und -berichten aufzuweisen (242 f.), ebenso die Rezeption der ars iocandi als Teil der Briefkunst Poggios (229 f.) in der Verwendung ironischen Sprechens (244 f.).
Wohl nicht als Ironie, aber doch als ein urbanes Sprachspiel wird man einen von Strack aufgedeckten intertextuellen Bezug in der Obödienzrede betrachten, die Pirckheimer 1458 vor Pius II. gehalten hat. Die captatio benevolentiae, die er vorträgt - in der Edition sieben Zeilen lang - stammt von niemand anders als von Pius selbst; Pirckheimer entnahm sie der Obödienzrede, die Enea Silvio elf Jahre zuvor für Friedrich III. vor Papst Eugen IV. gehalten hatte (248 und die Textedition im Anhang 272). Man wird nicht daran zweifeln, dass Pius das subtile Spiel durchschaut und goutiert hat. Die Obödienzreden stellen sicher einen Höhepunkt der rhetorischen Praxis Pirckheimers dar.
Unter den Rätebiographien ragt Stracks Arbeit zweifellos hervor. Ein besonderer Vorzug besteht darin, dass die Rekonstruktion der Universitätszeit, der gelehrten Ratstätigkeit und der eigenen Pfründengeschäfte mit derselben Kompetenz geleistet und die soziale Verflechtung mit derselben Konsequenz herausgearbeitet werden, die auch die eindringliche Darstellung der literarisch-materiellen, intellektuellen und sozialen Teilhabe am frühen Humanismus in Italien und Deutschland auszeichnen. Gewiss bietet die Quellenlage nicht jedem Rätebiographen die Chance, sich in allen Sätteln gerecht zu erweisen. Doch die Pirckheimer-Überlieferung bietet sie, und Strack hat sie hervorragend genutzt.
Dieter Mertens