Veronika Lukas (Hg.): Die jüngere Translatio s. Dionysii Areopagitae (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi; LXXX), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, VIII + 619 S., ISBN 978-3-447-10041-0, EUR 80,00
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Welche Kostbarkeit die Christenheit des Mittelalters in den Leibern der Heiligen sah, weiß jeder, der die goldenen, juwelenreichen Reliquiare mit eigenen Augen gesehen hat: kunstvolle Schreine, Büsten, Köpfe, Arme und Ampullen und was alles mehr, der Hauptanteil der überlieferten Goldschmiedekunst jener Zeit. Nicht geringer ist der Preis des Wortes für die himmlischen Herren der geistlichen Stiftungen hienieden. Sie übertreffen an Quantität häufig die der Ereignis-Historiographie, treten oft sogar an ihre Stelle. In der Hagiographie hat sich dazu eine ganze Reihe von Gattungen entwickelt: Beschreibungen vorbildlichen Lebens (Vitae) und Sterbens für den Glauben (Passiones), Sammlung der gewirkten Wunder (Miracula), und da der Heilige häufig nicht an dem Ort verehrt wird, an dem er gestorben ist, kommt als besondere Gattung die der Übertragungsberichte hinzu, die Translationes - gewissermaßen die Erwerbungsgeschichten. Ein besonders faszinierendes Exemplar davon hat Veronika Lukas in einer kritischen Edition zugänglich gemacht, und um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, durch ihre gediegene, elegante Übersetzung des sprachlich nicht sonderlich komplizierten lateinischen Textes jedem Interessenten des Mittelalters, der Heiligenleben oder spannenden Erzählens überhaupt die Möglichkeit gegeben, dieses Werk mühelos zu studieren. Ein Muss!
Worum geht es? Um die Mitte des 11. Jahrhunderts wählten sich die Mönche von St. Emmeram in Regensburg einen neuen Heiligen zur besonderen Verehrung und verfielen dabei auf Dionysius von Paris. Ihn hatte zweihundert Jahre zuvor der Abt der Grabeskirche Hilduin von St-Denis zu einem apostelgleichen Superheiligen ausgebaut: Bekehrter des Apostels Paulus bei der Predigt auf der Agora in Athen, als Areopagit Verfasser des Werkes über die Himmelshierarchie, Bischof von Athen und schließlich von Paris, der nach dem Martyrium sein abgeschlagenes Haupt noch meilenweit unter dem Arm trug. Um die Anwesenheit seiner Reliquien in St. Emmeram zu erweisen, wurde eine Serie von Fälschungen geschaffen. Dazu wurden drei Ziegelsteine fabriziert, die angeblich bei Bauarbeiten an der Abteikirche zutage traten, hinzu kam ein Translationsbericht, der die näheren Umstände der Entdeckung und der Übertragung schilderte, und ein zweiter Bericht, der nachfolgend völlig neu geschrieben wurde. Diese auf das Zehnfache erweiterte Neufassung der älteren ist die hier anzuzeigende jüngere Translatio. Sie besteht aus mehreren in Stil und Inhalt differenzierten Teilen. Zunächst ist da der umfangreiche Widmungsbrief an den Emmeramer Abt Reginward. Er führt ein in die zeitgeschichtliche Dimension der gänzlich fiktiven, fast zweihundert Jahre zurückliegenden Reliquienübertagung mit verschachtelten Rahmenerzählungen und Berichten, ausgehend von dem vorgeblichen Bemühen der Franzosen, den Leichnam zurückzugewinnen. Der Brief hat bislang schon das Interesse der Forschung auf sich gezogen, enthält er doch eine für damals einzigartige Beschreibung der Stadt Regensburg. Der zweite Teil ist ein Sermo de defensione auf die Eigenschaften des hl. Dionysius, zugleich Festtagslesung, in dem die Historizität des Heiligen im Anschluss an Hilduin unter sattsam zur Schau getragener Quellenkritik festgestellt wird. Daran schließt der eigentliche Translationsbericht, die abgefeimte Geschichte des vorgeblichen Reliquiendiebstahls unter Kaiser Arnulf, dem König des ostfränkischen Reiches, der in besonders enger Beziehung zu St. Emmeram stand. Der vierte Teil, der Bericht über die Reliquienerhebung (Revelatio), ist über den Anfang nicht hinausgekommen und blieb mitten im Satz stecken. Vielleicht ein Indiz für die Schwierigkeiten, die Inbesitznahme des Heiligen nach außen glaubhaft zu machen, wie auch die geringe, lokale Überlieferung nahelegt.
Die Translatio S. Dionysii beschreibt den Vorgang mit den Worten eines der Protagonisten, des Kaisers Arnulf als "tam egregium tamque laudabile furtum", als "herrlichen und lobenswerten Diebstahl" (360) und in dieser Geisteshaltung ist das gesamte Werk abgefasst. Gemessen an der älteren Translatio hat sich der anonyme Verfasser um einen folgerichtigen und alle nötigen Erzählmotive integrierenden Plot bemüht, der nicht nur die innere Wahrheit der Geschichte plausibel machen will, sondern auch eine spannende und unterhaltende Erzählung erreicht, ganz abgesehen von kleinen erzählerischen Schmuckstückchen der rhetorischen Amplificatio. Es ist diese Erzählung von ungehemmtem Lug und Trug, von satter Intrige und erschütternder Dreistigkeit, die auch dem heutigen Leser noch den Atem nimmt. Man nehme nur das Moment, wenn Kaiser Arnulf dem Abt von St-Denis zu helfen bereit ist bei der für diesen gesichtswahrenden Vertuschung des schändlichen Diebstahls, den des Kaisers eigener Mittelsmann verübt hat, wenn er dafür nur ein kostbares Evangeliar als Gegengabe erhalte, den so berühmten "Codex Aureus" (München, BSB, Clm 14000). Bemerkenswert dabei auch die wie für den modernen Kunsthistoriker gemachte Beschreibung des Bucheinbandes nebst dessen Deutung als dem himmlischen Jerusalem (442, 20ff.). Eigens erwähnt wird auch die Schenkung des goldenen Altar-Ziboriums Arnulfs, das sich heute in der Schatzkammer der Münchner Residenz befindet. Fürs Studium nationaler Ressentiments gibt der Text auch einiges her.
Wie sehr allerdings der gebildete und geschickt schreibende Autor zunächst drauf losfabuliert hat, ist ihm selbst klar geworden. Dies wird erst durch die neue Ausgabe deutlich: Die erste und bislang einzig vollständige Edition ist die des Emmeramer Fürstabtes Melchior Kraus von 1750 aus Abschriften des 15. Jahrhunderts. Erst 1873 wurde die Schäftlarner Handschrift (München, BSB, Clm 17142) entdeckt, die mutmaßliche Autorenhandschrift. Hier hat der Verfasser selbst - wie die Herausgeberin aufgrund der geschickten Redaktion annimmt (46) - die erste Version seines Textes revidiert und historische Ungenauigkeiten mit Hilfe der weitverbreiteten Chronik des Regino von Prüm zurechtgerückt. Die inhaltlichen Veränderungen sind durch das nicht revidierte Kapitelverzeichnis der ersten Fassung deutlich zu greifen.
So vergnüglich die Translatio als Lesestoff ist, so durchweg erfreulich ist auch die editorische Einleitung von Veronika Lukas. Sie hat sich damit als eine Stilistin von hohen Graden erwiesen, die es mit ihrer Umsicht für den Stoff und durch seine gedankliche Durchdringung dem Leser zum Vergnügen macht, dem Schicksal der Fälschung und seiner Überlieferung zu folgen, vorbildhaft für künftige Editoren. Dank sei ihr auch für ihren nüchternen Rationalismus, mit dem sie der häufig geschichtsklitternden Vermutungskombinatorik ihrer Vorgänger entgegentritt. Veronika Lukas hat ihrer Ausgabe einen Index der Wörter und Junkturen beigefügt, ebenso die Edition eines kleineren Teilkomplexes der Emmeramer Dionysius-Fälschungen, des Briefes Papst Leos IX. JL +4280, in dem der Papst in Regensburg 1052 aus Anlass der Kanonisation und Beisetzung des hl. Wolfgang in St. Emmeram die Authentizität der Dionysius-Gebeine in Anwesenheit protestierender Franzosen bestätigt.
Bleibt noch die unziemliche Frage nach dem historischen Auskunftswert der Quelle, nachdem die Editorin bereits mit den unter psychologisch-ethischen Gesichtspunkten betrachtenswerten Konfabulationen aufgeräumt und historische Spreu von phantastischem Weizen getrennt hat. Patrick Geary hat in seinem Buch über das Phänomen des Reliquiendiebstahls (Furta sacra, Princeton 1978, 1984) zwar die Translatio S. Dionysii nicht berücksichtigt, doch er hat auf eine Reihe anderer Berichte hingewiesen, die fiktive Diebstähle zum Gegenstand haben. Deren Vergleich wäre allerdings eher Gegenstand der Literaturwissenschaft oder ein Beitrag zur historischen Quellenkritik im Mittelalter, oder zu einer Mentalitätsgeschichte des Reliquienkultes.
Markus Wesche