Benjamin Müsegades: Heilige in der mittelalterlichen Bischofsstadt. Speyer und Lincoln im Vergleich (11. bis frühes 16. Jahrhundert) (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Bd. 93), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 449 S., ISBN 978-3-412-52011-3, EUR 65,00
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Heiligenkulte sind ein Phänomen, das im gesamten europäischen Mittelalter für alle Bevölkerungsschichten von großer Bedeutung war. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass sich Benjamin Müsegades in seiner Habilitationsschrift diesem Thema in einer vergleichenden Studie widmet, die zudem einen langen Untersuchungszeitraum abdeckt. Um dieses weit abgesteckte Feld bearbeiten zu können, konzentriert sich Müsegades auf zwei Städte und ihre Einwohner, die er möglichst flächendeckend untersuchen will. Ihm geht es dabei um die religiösen Praktiken der jeweiligen Stadtbevölkerung und insbesondere um die Aneignung von Heiligen. Darunter versteht er "die Auswahl eines Heiligen als Patron einer Kirche, einer Kapelle, eines Altars oder einer Korporation und/oder seine bildliche, schriftliche oder rituelle Inkorporation, Abbildung oder Darstellung sowie jeder physische wie imaginierte Kontakt mit demselben durch Individuen, Gruppen oder Korporationen" (22). Ein weiteres Ziel des Buches ist es herauszufinden, inwiefern die Aneignung von Heiligen die Identität sozialer Gruppen begründete oder stärkte.
Gegliedert ist die Arbeit in acht Kapitel, von denen die ersten drei einleitenden Charakter haben. Neben der Einleitung selbst trifft das auf die Kapitel zur Geschichte und Sakraltopographie beider Städte sowie zur dortigen Heiligenverehrung im Frühmittelalter zu. Das vierte Kapitel, "Akteure und Orte", ist das mit Abstand umfangreichste (198 Seiten). Es ist nach den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen der Städte geordnet und behandelt Domkapitel und Kollegiatstifte, Bischöfe, Klöster und Orden, Pfarrkirchen, Hospitäler und Kapellen, Bürgermeister und Rat, Bruderschaften, städtische Laien, Könige und Kaiser sowie den regionalen Adel, wobei die Ausführungen je nach Quellenlage sehr disparat ausfallen (von 4 Seiten zum regionalen Adel bis hin zu 70 Seiten zu den Domkapiteln und Kollegiatstiften). In einem weiteren Kapitel, "Heilige erlaufen", werden Pilger aus den beiden Städten zu anderen Wallfahrtsorten untersucht - der Blickwinkel ist hier also invertiert -, anschließend wird eine Analyse der Prozessionen in den Städten selbst vorgelegt. Drei resümierende Kapitel runden den Band ab: ein Zwischenfazit von nicht einmal drei Seiten Länge, das man gut in das letzte Kapitel integrieren könnte, eine Durchsicht der Ergebnisse anhand unterschiedlicher Kategorien von Heiligen, nämlich biblische, antike, mittelalterliche und - bezogen auf die beiden Städte - lokale Heilige, sowie schließlich "Erträge und Perspektiven des Vergleichs". Aufgrund des breiten Zugriffs geraten zahlreiche unterschiedliche Quellen in den Blick, angefangen von den Patrozinien der Kirchen, Kapellen und Altäre über Reliquien, bildliche Darstellungen - insbesondere auf Siegeln -, liturgische Geräte sowie die Liturgie selbst bis hin zu Schenkungen, Stiftungen und Testamenten. Historiographische Zeugnisse liegen dagegen nur in wenigen Fällen vor.
Der Vergleich der beiden Städte ist synchron und symmetrisch angelegt. Müsegades hat zwei Bischofsstädte ausgesucht, "da diese meist über eine große Zahl von geistlichen Institutionen verfügten, an deren Beispiel sich die Aneignung himmlischer Mittler durch Gemeinschaften und Individuen gut nachvollziehen lässt" (29). Dadurch, dass der Aufbau der Arbeit anhand der sozialen Gruppierungen erfolgt und die beiden Städte demnach gemeinsam analysiert und nicht etwa nacheinander abgehandelt werden, kann Müsegades eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden anschaulich herausarbeiten. Seiner Schlussbemerkung, dass die Ergebnisse ohne den komparatistischen Ansatz "alleine aus einer beschränkten stadtgeschichtlichen Perspektive Relevanz besessen" hätten (358), kann sich der Rezensent allerdings nicht anschließen. Denn im Verlauf der Untersuchung erfolgen immer wieder Vergleiche mit anderen Städten in den jeweiligen Reichen, um die Ergebnisse einordnen zu können. Diese notwendige und daher sinnvolle Einbettung in einen größeren Kontext hätte auch bei einer Studie zu einer einzelnen Stadt geleistet werden können. Letztlich liegt also nicht nur ein Vergleich zweier Städte "in der zweiten Reihe der jeweiligen Reiche" (12) vor, sondern auch ein Vergleich der Ausübung von Heiligenkulten in urbanen Räumen Englands und des Reichs. Dieser größere Vergleichsrahmen wird in der Arbeit weder angesprochen, noch werden die Grundbedingungen dieses Vergleichs in den theoretischen Erörterungen in der Einleitung thematisiert. [1] Unabhängig davon lässt sich nicht leicht ermitteln, worin der Mehrwert der komparatistischen Methode für die vorliegende Studie liegt. Fragen, die sich erst durch den Vergleich ergeben haben, oder die Beschäftigung mit Themen, die durch ihn angeregt wurden, sucht man vergebens. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden festgestellt, aber welche Ursachen sie hatten oder welche Folgen sich daraus ergeben, wird nur an wenigen Stellen angesprochen. So wird beispielsweise die interessante Beobachtung gemacht, dass in England häufig Bischöfe zu Heiligen erhoben wurden, deren Kulte - auch wenn sie nicht immer päpstlich approbiert waren - zumindest eine lokale oder regionale Bedeutung hatten; im Reich dagegen blieben heilige Bischöfe im Untersuchungszeitraum eher die Ausnahme, hier spielten Reliquien, die aus Rom oder von anderen Orten transferiert wurden, eine größere Rolle bei der Etablierung lokaler Kulte (269 und 346). Ein Versuch der Erklärung wird nicht unternommen. Anders ist das bei der Feststellung, dass biblische und antike Heilige in Speyer präferiert wurden, während das in Lincoln nicht der Fall gewesen zu sein scheint. Hierfür macht Müsegades "nicht zuletzt die größere Zahl von Sakralbauten" in Lincoln geltend (345), allerdings ohne diesen Punkt weiter zu verfolgen.
Die Arbeit bietet demnach viele Einzelbeobachtungen zur Entwicklung der Heiligenverehrung in Speyer und Lincoln, die auch in den Kontext des jeweiligen Reichs eingeordnet werden. Die Frage, welche Bedeutung die Heiligen und ihre Kulte für die Identität der untersuchten Gruppen und Institutionen haben, wird nicht mehr explizit aufgegriffen. Auch eine Rückbindung an die Forschung beispielsweise zur Identität korporativer Gruppierungen in der spätmittelalterlichen Stadt fehlt. So bleibt letztlich ein zwiespältiger Eindruck: Einerseits werden die Potentiale der komparatistischen Methode nur ansatzweise genutzt, andererseits beeindruckt die Studie durch die Fülle an bearbeiteten Quellen und ihren - sowohl zeitlich, als auch sozial - breiten Zugriff, der in einer sprachlich klaren Darstellung mündet, die der stadtgeschichtlichen Forschung viele Anknüpfungspunkte bietet.
Anmerkung:
[1] In dem entsprechenden Abschnitt 1.5: "Der historische Vergleich als Methode" (26-30) sowie generell in der Einleitung werden aber sehr wohl gute Gründe für die Vergleichbarkeit der beiden Städte vorgebracht. Die Quellenlage scheint allerdings für Lincoln in mehreren Punkten weniger ergiebig zu sein als für Speyer.
Dominik Waßenhoven