Lea Raith: Die Stadt Köln und ihre Heiligen. Lokale Geschichtsvorstellungen in der Hagiographie des 10.-12. Jahrhunderts (= Beiträge zur Hagiographie; Bd. 29), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 292 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13733-1, EUR 56,00
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Hagiographische Texte werden seit jeher in unterschiedlichen Kontexten, mit wechselndem Stellenwert und unter variierenden Fragestellungen für Forschungen zur Geschichte des Mittelalters herangezogen. Dabei bilden ihr Konstruktionscharakter und die Topoi heiligengemäßen Lebens und Handels Hürden, Herausforderungen und Potenziale, mit denen sich jede Mediävistengeneration aufs Neue auseinandersetzt. Dies tut auch Lea Raith in der Druckfassung ihrer an der Universität Köln eingereichten und im Kontext des dortigen Graduiertenkollegs "Dynamiken der Konventionalität (400-1550)" entstandenen Dissertation zu lokalen Kölner Geschichtsvorstellungen in hagiographischen Quellen vom 10. bis zum 12. Jahrhundert.
Den Beginn des Untersuchungszeitraums markiert das Entstehen erster einschlägiger Schriften im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts. Den Endpunkt bildet die Mitte des 12. Jahrhunderts, als die Verdichtung des Kölner Heiligenhimmels weitestgehend abgeschlossen war. Ziel der Untersuchung ist es dabei herauszuarbeiten, "mit welcher Absicht eine Legende verschriftlicht wurde, [...] woher ihre Verfasser ihre Informationen nahmen und inwieweit ihre Werke wiederum von anderen - auch medienübergreifend - rezipiert wurden". (21)
Nach der Einleitung, die neben generellen Überlegungen zu Hagiographie und Geschichtsschreibung auch einen Überblick zur einschlägigen Kölner Stadtgeschichte bietet (13-48), folgt der Hauptteil zu heiligen Akteuren und den mit ihnen in Zusammenhang stehenden Texten. Behandelt werden sie nach einem wiederkehrenden Muster von kurzer Einleitung, historischer Kontextualisierung und nachfolgender Vorstellung der zentralen Quelle(n) sowie deren Rezeptionsgeschichte(n). Diese Herangehensweise macht es einfach, die Arbeit auch - je nach spezifischen Erfordernissen - kapitelweise zu lesen, und prädestiniert sie perspektivisch als Nachschlagewerk für weitere Studien zu Köln im Früh- und beginnenden Hochmittelalter.
Behandelt werden dabei Gereon und die Thebäische Legion (49-69), Ursula und die 11.000 Jungfrauen (70-101), Maternus (102-122), Severin (123-147), Evergisil (148-168) und Kunibert (169-188), Malmedy und die Bischöfe Agilolf und Hildebald (189-205), das Annolied (206-222) sowie weitere Spuren von antiken und frühmittelalterlichen Heiligen im Köln des Hochmittelalters (223-236). Insgesamt überzeugt Lea Raiths Studie durch die Durchdringung der umfangreichen Literatur zu den einzelnen Heiligen, ihren Kulten sowie zu Überlieferung und Rezeption der einschlägigen Texte. Besonders verpflichtet ist sie dabei den Forschungen Wilhelm Levisons (1867-1947), dessen Ergebnissen sie an vielen Stellen folgt. [1]
Die Vielzahl von Einzelbefunden in der Arbeit, die für die Forschung zu mittelalterlichen Heiligenkulten und zur Kölner Stadtgeschichte hilfreiche Anknüpfungspunkte bieten, kann in diesem Kontext nur angerissen werden. Sichtbar werden beispielsweise immer wieder die Interdependenzen zwischen den verschiedenen hagiographischen Texten. So finden sich in der zwischen der Mitte des 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen Vita des Bischofs St. Evergisil (gestorben um 594) in größerer Zahl Anklänge an die Lebensbeschreibung St. Severins (gestorben um 403) aus der Mitte des 10. Jahrhunderts. Weiter kann die Verfasserin herausarbeiten, dass, während die meisten der aufgeführten Kulte sich zusammen bis ins 12. Jahrhundert zu einem distinkten lokalen Heiligenhimmel verdichteten, die Rolle des Bischofs Maternus (gestorben um 328) eine eher nebensächliche blieb, die sich in Einträgen in einigen Kalendarien erschöpfte, wobei diese randständige Bedeutung mit seiner Vereinnahmung von Trierer Seite in Verbindung stehen könnte.
Generell hat die jeweils gesonderte Abhandlung der Heiligen samt einschlägiger Texte im Sinne einer beinahe schon handbuchartigen Zusammenstellung zweifelsohne Vorteile. Allerdings wird dabei über weite Strecken vieles zusammengefügt, das aus der älteren Forschung - insbesondere aus den Arbeiten Levisons - bereits bekannt ist. Darüber hinaus werden die sich aus der Gesamtschau der Beispiele ergebenden übergreifenden Ergebnisse der Arbeit nur in einem insgesamt zu kurzen Fazit gebündelt (237-246). Die dort formulierten Ergebnisse wiederum sind doch in einigen Punkten recht konventionell. Dass die Heiligen "in der täglichen Stadterfahrung allgegenwärtig waren" (237) dürfte für die meisten lokalen städtischen Heiligenhimmel der Fall sein. Auch die im Fazit bestätigte Anfangsannahme "Geschichte ist Konvention" (245) überrascht mit Blick auf das Thema kaum. Auffällig ist allerdings, dass die Kölner Heiligenlandschaft zwar Mitte des 12. Jahrhunderts schon verdichtet war, es anders als etwa in Trier aber noch keine fertige Heiligen-Meistererzählung gab. [2]
Bedauerlich ist generell, dass Lea Raith zwar umfassend Termini wie Identität, Hagiographie und Geschichtsschreibung in ihrer Einleitung definiert und dabei die einschlägige Forschung einarbeitet, jedoch bei dem mindestens ebenso wichtigen Begriff der Frömmigkeit, für den einschlägige Arbeiten vorliegen, auf ein entsprechendes Vorgehen verzichtet. [3] Dadurch 'geistern' nicht zuletzt die problematischen Begriffe "Volksglauben" (21) und "Volksfrömmigkeit" (138, 146) unreflektiert durch die Arbeit, ohne dass diese einen heuristischen Mehrwert entfalten würden. [4]
Insgesamt liegt jedoch trotz der erwähnten Monita eine ergiebige Studie zur Ausbildung des lokalen Heiligenhimmels in Köln für die Übergangszeit vom Früh- zum Hochmittelalter vor. Gerade in ihren Einzelbetrachtungen und in der handbuchartigen Zusammenstellung der Ergebnisse bietet die Arbeit Anknüpfungspunkte für weitere Forschung.
Anmerkungen:
[1] Der Großteil der einschlägigen Texte wieder abgedruckt in: Wilhelm Levison: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948.
[2] Umfassend zu Trier: Klaus Krönert: L'exaltation de Trèves. Écriture hagiographique et passé historique de la métropole mosellane VIIIe-XIe siècle (Beihefte der Francia; 70), Ostfildern 2010.
[3] Exemplarisch: Klaus Schreiner: Frömmigkeit in politisch-sozialen Wirkungszusammenhängen des Mittelalters. Theorie- und Sprachprobleme, Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Mittelalterforschung nach der Wende 1989, hg. von Michael Borgolte (Historische Zeitschrift. Beihefte NF; 20), München 1995, 177-226.
[4] Noch immer grundlegend: Klaus Schreiner: Laienfrömmigkeit - Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfaßtheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, hg. von dems. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien; 20), München 1992, 1-78.
Benjamin Müsegades