Hermann Glaser: Adolf Hitlers Hetzschrift »Mein Kampf«. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus, München: Allitera 2014, 344 S., ISBN 978-3-86906-622-6, EUR 19,90
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Hitlers programmatische Schrift "Mein Kampf" ist in Forschung und Öffentlichkeit zurzeit en vogue. Das zeigt sich nicht nur an den wissenschaftlichen Studien, die in den letzten Jahren über Hitlers Buch vorgelegt wurden, etwa von Barbara Zehnpfennig, Othmar Plöckinger und Swantje Krämer [1], sondern mehr noch am gewaltigen Medieninteresse, das die wissenschaftlich-kritische Edition von "Mein Kampf" hervorruft, die vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) vorbereitet wird. Während Politiker und interessierte Öffentlichkeit kontrovers und hitzig über Hitlers Hetzschrift diskutieren, ist sich die Wissenschaft mittlerweile weitgehend einig: "Mein Kampf" ist eine lange Zeit unterschätzte und wichtige Quelle zum Verständnis des Nationalsozialismus. Dass das Buch keineswegs "inhaltslos und geradezu unlesbar" sei, wie so oft behauptet, hat bereits Eberhard Jäckel in seinem Standardwerk "Hitlers Weltanschauung" festgestellt. "Mein Kampf", so Jäckel, sei im Gegenteil eine schlüssige Synthese von Hitlers Ideologie und diese wiederum ein bewusster Gegenentwurf zur marxistischen Weltanschauung. [2] Diese Auffassung hat Barbara Zehnpfennig in ihrer Interpretation von "Mein Kampf" bekräftigt.
Insgesamt hat sich die wissenschaftliche Kontroverse um "Mein Kampf" versachlicht. Umso mehr staunt man über die vorliegende Arbeit von Hermann Glaser, der 1964-1990 Schul- und Kulturdezernent in Nürnberg war und zahlreiche Bücher über das 'Dritte Reich' und die Bundesrepublik Deutschland verfasst hat. Glasers vorliegende Studie fällt durch ihre starke Polemik auf, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vielleicht noch eine gewisse Berechtigung hatte, aber heutzutage nicht mehr angebracht erscheint. Hitler, so Glaser, sei ein Mann "von außerordentlicher Mediokrität" gewesen. "Mein Kampf" sei "der Amoklauf eines zwar nicht von der Staatsangehörigkeit, aber vom Ungeist her gesehen, typischen Kleinbürgers", der "mit den Deutschen brüderlich verbunden" war, eine "Inkarnation bourgeoiser Durchschnittlichkeit" und "ein bösartiges Rumpelstilzchen". Dass die Forscher dies nicht zur Kenntnis nähmen oder nicht thematisierten, so Glaser weiter, "mag damit zusammenhängen, dass sie das 'Dritte Reich' nicht als Zeitzeugen erlebten", womit er konkret Othmar Plöckinger, Volker Ullrich und Barbara Zehnpfennig meint, "oder als Ausländer nicht erleben konnten" - was sich auf Ian Kershaw bezieht. Diesen namhaften Wissenschaftlern sei entgangen, dass Hitler "ein mieser abgründiger Spießer" gewesen sei, "der zum Schicksal eines Volkes werden konnte, weil er alle Untugenden und Ressentiments dieses Volks inkorporierte". (8, 176 f., 295, 309)
Glaser will mit seiner Darstellung die deutsche Kollektivschuld unterstreichen, denn Hitler habe die Mentalität seines Volkes in sich getragen. (9, 36 f.) Was der Verfasser aber unberücksichtigt lässt, ist die Tatsache, dass die NSDAP noch ein rein regionales Phänomen war, als Hitler "Mein Kampf" verfasste. Erst das Elend der Weltwirtschaftskrise trieb ihm die Anhänger in Scharen zu. Darauf hat bereits Sebastian Haffner - ein Zeitzeuge wie Glaser - in seinen "Anmerkungen zu Hitler" hingewiesen und festgestellt: "Eine ungeheure Leistung, so fast das ganze Volk hinter sich zu vereinigen, und in weniger als zehn Jahren vollbracht! Und vollbracht, im Wesentlichen, nicht durch Demagogie, sondern - durch Leistung." [3] Stattdessen erfährt man in Glasers Darstellung, Hitler sei "mittelmäßig, primitiv, ohne Vorzüge und Meriten" gewesen, seine Gefolgsleute "niedere Dämonen" und "Psychopathen". (9, 22)
Statt sich mit dem Phänomen Hitler und seinem Buch sachlich auseinanderzusetzen, vollzieht Glaser einen Parforceritt durch die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts - wobei er nur Negatives zu konstatieren weiß. Wie ein roter Faden durchzieht seine Darstellung die Polemik gegen die deutschen Kleinbürger und "Spießer". Ausgewählte, zuweilen recht lange Zitate aus "Mein Kampf", die am Anfang jedes Kapitels stehen, dienen dem Verfasser lediglich als Vehikel für die Kritik an der vermeintlich kleinbürgerlichen Mentalität der Deutschen. Will man aber einen deutschen mentalitätsgeschichtlichen "Sonderweg" aufzeigen, kommt man nicht umhin, ihn mit den ausländischen "Normalwegen" zu kontrastieren. Dass sozialdarwinistische und rassistische Theorien auch außerhalb Deutschlands verbreitet waren und breit rezipiert wurden, etwa in Frankreich die Werke von Georges Vacher de Lapouge und in den USA die Bücher von Madison Grant und Lothrop Stoddard, erfährt der Leser jedoch nicht. Die Lehre von der Überlegenheit der "nordischen Rasse" entstammte auch keineswegs nur "kleinen Traktätchen" (137), sondern wurde von namhaften Anthropologen wie Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz verbreitet.
Ein erstaunlicher Mangel an Sachkenntnis zeigt sich darüber hinaus etwa am Kapitel über Hitlers Jugend, in dem Behauptungen über die Entwicklung von Hitlers Antisemitismus vorgebracht werden, die von der Forschung längst widerlegt sind, oder an dem fehlerhaften kurzen Abriss der Frühgeschichte der NSDAP. (86-92, 295-306) Geradezu peinlich berührt ist man, wenn man einen Satz wie den folgenden liest: "Die Wahrheit, schreibt Hitler, läge wie die Eier des Kolumbus - offensichtlich meinte er Kolumbus habe Eier gelegt - auf der Straße." (130) Was es mit dem geflügelten Wort "Ei des Kolumbus" auf sich hat, kann man indes in jedem Nachschlagewerk über Sprichwörter nachlesen.
Dass Glaser als Quelle mehrfach Hermann Rauschnings "Gespräche mit Hitler" heranzieht, obwohl deren Authentizität längst widerlegt ist, erscheint genauso befremdlich wie seine Aussage über Alfred Rosenbergs Hauptwerk "Der Mythus des 20. Jahrhunderts": Dieses, so Glaser, sei "eines der dümmsten Bücher" gewesen, "die je geschrieben wurden, aber auch eines der gefährlichsten, da es bewusst auf die Masse der Halbgebildeten und Ungebildeten" abgezielt habe. (143) Dies erscheint schon deshalb absurd, weil das Buch selbst unter Zeitgenossen als komplizierte und unverdauliche Lektüre galt. Der bekannte Dresdner Romanist Victor Klemperer etwa las den "Mythus" im Frühjahr 1942 und vermerkte in seinem Tagebuch, er habe nicht viel davon verstanden. [4]
Polemik trägt weder zum Verständnis von Hitlers "Mein Kampf" noch zur Entschärfung der Ideologie bei, die darin zum Ausdruck kommt. Eberhard Jäckel, 1929 geboren und damit immerhin fast genauso alt wie Hermann Glaser, betonte bereits in seinem Standardwerk "Hitlers Weltanschauung", leidenschaftliche Ablehnung und moralische Entrüstung seien bei der Beschäftigung mit Hitlers Ideologie fehl am Platz; "wer ständig abwertende Anführungszeichen um die Hitlerschen Begriffe" setze und "sich in jeder Zeile distanzieren zu müssen" meint, der dürfe nicht erwarten, dass er etwas verstehe. [5] Stattdessen forderte Jäckel eine "kritische, alle Änderungen der zahlreichen Auflagen verzeichnende Ausgabe" von "Mein Kampf". Eine solche kritische Edition wird 2016 erscheinen, herausgegeben vom IfZ. Sie wird Hitlers Hetzschrift kontextualisieren und dekonstruieren und damit weiter zur Versachlichung der Debatte um "Mein Kampf" beitragen - anders als die polemische Schrift von Hermann Glaser, die einen Rückschritt darstellt.
Anmerkungen:
[1] Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf: Eine Interpretation, 3. Auflage, München 2006; Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf", 1922-1945, 2. Auflage, München 2011; Swantje Krämer, Hitlers Weltanschauung in "Mein Kampf": Von der Genese zur Manifestation, Wiesbaden 2010.
[2] Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung: Entwurf einer Herrschaft, 2. Auflage, Stuttgart 1981, 98, 119, 129.
[3] Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, 16. Auflage, München 1978, 46.
[4] Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1945, hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, 3. Auflage, Berlin 1995, Bd. 2, 117.
[5] Jäckel: Hitlers Weltanschauung (wie Anm. 2), 20.
Roman Töppel