Wolfgang Breul / Stefania Salvadori (Hgg.): Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus (= Edition Pietismustexte (EPT); Bd. 5), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014, 293 S., ISBN 978-3-374-03062-0, EUR 24,00
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Der hier anzuzeigende Band versammelt 10 Quellen oder umfangreichere Quellenauszüge zum in seinem Titel formulierten Leitthema - einige davon aus der Feder so prominenter theologischer Denker wie Philipp Jacob Spener, Gottfried Arnold oder Nicolaus Ludwig von Zinzendorf - mit dem Ziel, die in sich höchst vielfältige und spannungsreiche Bewegung des Pietismus ehetheologisch und ethisch zu profilieren: "Es sollen aber markante Positionen vertreten sein" (235). Damit stellen sich die Herausgeber einer angesichts des theologiegeschichtlichen Forschungsstandes zum Thema Ehe höchst anspruchsvollen Aufgabe, deren Bewältigung dann auch nur partiell gelingt.
Denn die Frage, inwiefern eine Position markant ist, stellt sich letztlich auf zwei Ebenen: Zum einen kommt es auf ihre theologiegeschichtliche Profilierung innerhalb der Geistesbewegung an, der sie zugerechnet wird; sodann aber gilt es auch, ihr ihren Ort über die ja immer konstruierten Grenzen jener Geistesbewegung hinweg zuzuweisen, womit wir bei der christentumsgeschichtlichen Profilierung sind. Beide Ebenen bedingen einander: In unserem Fall bleibt die Beantwortung der Frage nach dem Standort einer Position innerhalb des Pietismus freilich nicht ohne Auswirkung auf ihre Einordnung in die Christentumsgeschichte insgesamt, während umgekehrt die Einordnung in die großen Linien der Christentumsgeschichte Rückschlüsse auf die - hier ehetheologische und ethische - Eigenart des Pietismus erlaubt. Die Lektüre des die Quellensammlung kontextualisierenden und erläuternden Nachwortes belegt allerdings, dass sich die Herausgeber vornehmlich der erstgenannten Ebene stellen, der zweiten hingegen zu wenig Aufmerksamkeit widmen.
Bereits die Verhältnisbestimmung der präsentierten Ehetexte und damit des Pietismus zu den Eheverständnissen der Reformatoren zeugt von diesem Ungleichgewicht. Richtig ist, dass die Reformation ehetheologisch "erhebliche Veränderung" mit sich brachte (229); richtig ist auch, dass diese massiven Veränderungen schöpfungs- und vor allem rechtfertigungstheologisch fundiert sind (229-231). Nicht korrekt ist jedoch, dass erst Bucer "der reformatorischen Ehelehre einen eigenen Akzent" hinzufügte, als er die Korrumpierung des bonum fidei zum Scheidungsgrund erhob, und so "im Vergleich zu anderen Reformatoren die Schwelle für eine Scheidung der Ehe" deutlich absenkte (231). Mal abgesehen davon, dass jedweder bibliografische Nachweis zu dieser Behauptung unterbleibt, gelangt Luther ebenfalls und unabhängig von Bucer zu dieser Einsicht. Entsprechend ist der ehetheologische Konsens unter den großen Gestalten der Reformation deutlich weiter und im Detail pointierter zu fassen, als es im Nachwort geschieht (ebd.). Nimmt man dann noch hinzu, dass der wirkmächtigste ehetheologische Denker der gesamten Kirchengeschichte, nämlich Augustin, überhaupt keine Berücksichtigung findet, wird klar, warum eine angemessene Würdigung der zu Recht attestierten "Akzentverschiebungen" (ebd.) im späten 16. und im 17. Jahrhundert ausbleibt, obgleich einschlägige theologiegeschichtliche Forschungsbeiträge vor allem zum Eheverständnis Luthers bibliografisch notiert werden (234 m. Anm. 17f.).
Die eigentliche Leistung des Bandes liegt daher auf der ersten angeführten Ebene, wie die Vorstellung und Einordnung der abgedruckten Quellen ausweist: Mit Blick für aufschlussreiche biografische Details werden die Texte mit den Lebensläufen ihrer Autoren und vor allem untereinander erhellend ins Gespräch gebracht (235-272), sodass sich der interessierte Leser ein Bild von der spannungsreichen Vielfalt pietistischer Eheverständnisse machen kann. Illustriert sei dies an zwei Denkern, die auf je eigene Weise die Gestalt und Wahrnehmung des Pietismus geprägt haben: Spener und Arnold.
Spener, von dem zwei Ehetexte abgedruckt sind, eine Predigt (7-42) und ein Gutachten (43-70), kommt dabei als genuiner ehetheologischer Erbe Luthers zu stehen, der die ethischen Potentiale, die beim Reformator bereits angelegt sind und seit Mitte der 1520er-Jahre zunehmend zum Tragen kommen, voll entfaltet: Bei strikter schöpfungstheologischer Verankerung des ehelichen Standes und seiner damit begründeten Gottgefälligkeit betont Spener die gegenseitige gottgewollte Zuordnung der Geschlechter genauso wie die schwerlich zu überschätzende Verantwortung, die Frau und Mann für- und miteinander in der Ehe tragen (z.B. 7-10, 35-41, 58f.). War für Luther die Nachwuchszeugung und vor allem -erziehung im Dienste der Evangeliumsverkündigung noch der Ausgangspunkt seiner Hochschätzung der ehelichen Gemeinschaft der Geschlechter, tritt dieser Punkt bei Spener hinter die ethische Dimension zurück, ohne gänzlich aufgegeben zu werden (32-35, 65f.). Um es mit der kirchlichen Tradition seit Augustin zu sagen: Dominierte in Luthers Wertung der Ehe noch das bonum prolis, dem das bonum fidei rechtfertigungstheologisch zugeordnet wurde, lässt Spener seine Hochschätzung der Ehe stärker auf dem bonum fidei aufruhen. Dass er dabei argumentativ aber von einer Auslegung von Eph 5,30-32 ausgeht (10-28), die direkt von Luther abhängt, markiert die unverkennbare genetische Verwandtschaft seines Eheverständnisses mit dem des Reformators genauso wie die schwerlich zu übersehenen Parallelen in der Auslegung von 1. Kor 7 (43-66). Dass und inwiefern sich Spener in ganz eigener Weise mit den ehetheologischen Vorgaben Augustins auseinandersetzt, was ihn letztlich auch im Gegenüber zu Luther bestimmte Akzente verschieben lässt, bleibt leider völlig unerörtert (z.B. 43f., 49f., 51f.); es scheint den Herausgebern auch gar nicht aufgefallen zu sein (vgl. 49 m. Anm. 32!).
So verhält es sich auch bei Arnold, der ebenfalls mit zwei Texten zur Ehe präsent ist (97-145). Im Gegenüber zu Spener löst sich Arnold in markanten Punkten von den Grundfesten des Eheverständnisses Luthers, und zwar um den Preis, dass er sich denen Augustins wieder annähert: Schon der wirkmächtige Kirchenvater propagierte bekanntlich die keusche Ehe und ihre Höherrangigkeit gegenüber ehelichen Verbindungen, in denen Geschlechtsverkehr stattfindet, und auch Arnold wertet den Geschlechtsakt und seine Bedeutung für die Hochschätzung der Ehe im Vergleich zu Spener noch einmal radikal ab (111f., 118-129). Wie nah Arnold den ehetheologischen Vorgaben der Alten Kirche, vor allem aber Augustins steht, bleibt in den erläuternden Anmerkungen nun leider undiskutiert, und zwar genauso wie seine damit einhergehende Entfernung von Luther (bes. 128f.). Beides bedarf allerdings dringend der Aufarbeitung, will man Arnolds Modifikation des einst von Luther geprägten reformatorischen Eheverständnisses qualitativ beurteilen - auch im Gegenüber zu Spener. Denn dass auch Arnold ehetheologisch letztlich enger mit dem Reformator als mit dem Kirchenvater verwandt ist, eben weil und sofern er seine Wertung von Enthaltsamkeit und Geschlechtsakt nicht meritorisch unterfüttert (130f.), obgleich er in bestimmten Punkten wie z.B. der argumentativen Fokussierung auf den usus ad remedium Augustin sogar noch überbietet (125f.), bedürfte doch mindestens der Annotation.
Diese kurze Skizze verdeutlicht die eingangs herausgestellten Stärken des vorliegenden Bandes genauso wie seine Schwächen: Er stellt anhand geschickt ausgewählter Beispiele vor Augen, welche Gestalten protestantischen Eheverständnisses vom 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein existieren und auf ihre Weise wirksam werden. Die theologiegeschichtliche Einordnung durch Verhältnisbestimmung zu schwerlich zu überschätzenden ehetheologischen Prägegestalten unterbleibt hingegen, weshalb schlussendlich auch die Frage, wo die Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Gegenüber zur Reformation und über diese hinaus genau liegen, was also die Eigenart pietistischer Eheverständnisse überhaupt ausmacht, weiter gestellt werden muss. Allein: Wertvolles Material zu ihrer Beantwortung liegt nun leicht zugänglich vor, und genau darin liegt das eigentliche Verdienst der Herausgeber.
Christian Volkmar Witt