Michael G. Esch: Parallele Gesellschaften und soziale Räume. Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880-1940 (= Campus Historische Studien; Bd. 63), Frankfurt/M.: Campus 2012, 482 S., ISBN 978-3-593-39634-7, EUR 49,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Ziel der interdisziplinär angelegten Untersuchung von Michael G. Esch ist eine "weitgehende Annäherung an die Formen, in denen sich [...] Migranten und Migrantinnen" aus Osteuropa - vor allem aus dem Russischen Reich, Österreich-Ungarn und deren Nachfolgestaaten sowie Rumänien und Bulgarien - im Zeitraum zwischen 1880 und 1940 "ihre Umgebung kognitiv und physisch aneigneten" (10). Den Autor interessiert die Herausbildung von migrantischen Netzwerken, Milieus und sozialen Räumen in der Stadt Paris. Er grenzt sich dabei von community studies ab, die "häufig positiv gewertete Prozesse der Integration und/oder Assimiliation und den" seitens der eingewanderten Gruppen "mitgebrachten Gewinn für die materielle und ideelle Kultur des Aufnahmelandes betonen", aber auch von "der national orientierten Emigrationsforschung", in der "gerade das Ausbleiben von Integration, die Bewahrung von Eigenart und kollektivem nationalem Bewusstsein lobend hervorgehoben" werde (8). Esch sieht in der bisherigen Forschung eine "eigentümliche Leerstelle": So spiele "die Subjektivität von Migranten und Migrantinnen selbst in einigen der bestgemeinten soziologischen Arbeiten zu Integrations- und Assimilationsvorgängen keine Rolle" (9). Diesem Mangel versucht die vorliegende Studie im Hinblick auf das Paris der Belle Époque und der Zeit des Ersten Weltkriegs sowie zwischen den beiden Weltkriegen zu begegnen.
Im ersten Hauptteil werden in "historisch-ethnographischen Studien" die Verhaltensformen der Einwanderer in vier ausgewählten quartiers von Paris dargestellt, in denen eine hinreichend große Zahl von Einwanderern aus dem östlichen Europa lebte. Dabei handelt es sich um St. Gervais, den sogenannten "plecl fun paris", ein für die osteuropäisch-jüdische Einwanderung zentrales Viertel, wohin in zunehmendem Maße auch römisch-katholische und russisch-orthodoxe Zuwanderer aus Osteuropa zogen. Ähnlich diesem war Clignancourt ein Viertel, in dem ein Großteil der osteuropäischen Zuwanderer jüdischen Glaubens war, wobei sich der jüdische Bevölkerungsanteil mit der Zeit sogar vergrößerte, so dass Clignancourt anders als St. Gervais keine Entwicklung hin zu einem generell "osteuropäischen" Viertel nahm. Val de Grâce auf der rive gauche der Seine schließlich beherbergte Einwanderermilieus, die sich von denen in den zuvor genannten quartiers - wo Handwerker, Händler und Arbeiter dominierten - deutlich unterschieden: Hier wohnten vor dem Ersten Weltkrieg temporär oder dauerhaft (russische, polnische und rumänische) Revolutionäre - darunter in den 1880er Jahren die später in der deutschen Arbeiterbewegung bekannt gewordene Clara Zetkin (geb. Eißner) mit ihrem Lebensgefährten Ossip Zetkin. Darüber hinaus zeichnete sich das Viertel durch eine hohe Zahl von zugewanderten Studenten und Freiberuflern aus. Ab 1918 war es, wie auch das im Westen von Paris gelegene La Muette, Fluchtpunkt "weißer" russischer Emigranten, die vor der bolschewistischen Revolution geflohen waren. In La Muette wiederum, einem Viertel mit wohlhabender Einwohnerschaft, hatte sich ein Teil der ehemaligen russischen Eliten niedergelassen, denen es gelungen war, ihr Vermögen zum Teil nach Frankreich zu überführen, oder die andere Wege gefunden hatten, um ihren herrschaftlichen Lebensstil weiterzuführen.
Esch beschreibt für die jeweiligen Viertel im Wesentlichen auf der Basis von Polizeiquellen - vor allem Diensttagebüchern der entsprechenden Kommissariate - die beruflichen und Wohnverhältnisse der Immigranten sowie die migrantische Infrastruktur in Form von Einrichtungen, Straßenhandel, Geschäften und Gaststätten. Er spürt Prozessen des (Ein-) Heimisch-Werdens der Zuwanderer - darunter auch deviantem Verhalten als einer spezifischen Form von Aneignung und Integration - im Konflikt mit anderen Zuwanderern sowie in der Interaktion mit den französischen Nachbarn nach und beschreibt die Formen der Milieubildung. Dabei kann der Autor für St. Gervais und Clignancourt eine weitgehende Einheit zwischen dem topografischen Raum, in dem die Zuwanderer lebten, und dem sozialen Referenzraum, auf den ihre Handlungen ausgerichtet waren, nachweisen. In den anderen Vierteln bildeten sich aufgrund geringerer Zuwandererzahlen und der Sozialstruktur der dort lebenden Immigranten keine topografischen Milieus von solcher Dichte und relativer Kohärenz aus.
Im Zentrum des zweiten Hauptteils stehen die symbolische Vergemeinschaftung der Zuwanderer, deren Präsenz im französischen öffentlichen Raum sowie das Verhältnis der symbolischen zu den topografischen Milieus. Beschrieben werden die Netzwerkbildungen jüdischer Einwanderer aus einem bestimmten Herkunftsort sowie jene von Angehörigen ehemaliger Militäreinheiten des zarischen Russland in Form von "Amicales" oder "Amis" genannten Freundesgesellschaften. Wichtig für die Vergemeinschaftung von Zuwanderern waren religiöse Vereinigungen wie die Polskie Misje Katolickie, die für polnische Immigranten nicht nur eine konfessionelle, sondern auch eine nationale Konnotation besaßen. Im Fokus des Autors befinden sich die Aktivitäten osteuropäischer Migranten in gewerkschaftlichem Rahmen und ihre Beteiligung an Streiks. Zentral für migrantisches Nationalbewusstsein sowohl auf individueller Ebene als auch im öffentlichen Raum war der Erste Weltkrieg. Ob die Herkunftsländer der Migranten mit Frankreich verbündet oder ihm feindlich gesonnen waren, hatte Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Zuwanderer. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang migrantisch-korporative Vereinigungen, die im Auftrag des französischen Staates den Status von Migranten als Angehörige befreundeter Nationalitäten überprüften, wie zum Beispiel bei Polen und Tschechen, die aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, einem Kriegsgegner, stammten. In der französischen öffentlichen Meinung hingegen schwankte die Wahrnehmung der Migranten in Abhängigkeit vom Kriegsverlauf. Am Beispiel des Jüdischen Arbeiterbunds (Bund) zeigt Esch Differenzen innerhalb einer migrantischen Organisation bezüglich einer etwaigen Kriegsteilnahme der Mitglieder auf. Die Pariser Sektionsleitung des Bunds, die in einem abstrakten öffentlichen Raum agierte, trug mit Empfehlungen zugunsten einer Kriegsteilnahme seiner Mitglieder sowohl außenpolitischen Konstellationen als auch dem nationalen Diskurs Rechnung und wollte dadurch antisemitischen Vorwürfen begegnen. Die Parteibasis hingegen, in der das kriegerische Engagement zugunsten Frankreichs und seiner Alliierten nicht unumstritten war, "orientierte sich zumindest teilweise an Alltagserfahrungen und unmittelbaren Bedürfnissen und Erfordernissen im konkreten [...] sozialen Raum" (409).
Dem Verfasser ist die von ihm beabsichtigte "dichte Beschreibung" (14) der Verhaltensformen osteuropäischer Einwanderer in Paris durchaus gelungen. Vor den Augen des Lesers entsteht ein plastisches Bild des Lebens dieser Migranten in einer weltoffenen Großstadt mit all den Problemen, die ihre Integration in die Aufnahmegesellschaft begleiteten. Allerdings ist die praktisch durchgängige Verwendung von Polizeiquellen nicht ganz unproblematisch, da in diesen Quellen zumeist deviantes Verhalten der Migranten aufscheint, was zu einer stärkeren empirischen Fundierung von Aussagen über die Lebensverhältnisse jener Migrantengruppen führt, die vermehrt solches Verhalten zeigten. Der Autor verweist diesbezüglich selbst auf Erkenntnisgrenzen der Studie hinsichtlich der in Val de Grâce lebenden Studierenden und Intellektuellen (209). Ungeachtet der Detailfülle hat Esch eine lesenswerte Studie vorgelegt, die nicht nur unsere Kenntnis über die Existenzbedingungen osteuropäischer Einwanderer in Paris erweitert, sondern auch generell von Bedeutung für die interdisziplinär geführte Diskussion über die Verläufe von Integrations- und Assimilationsprozessen sein wird.
Johannes Frackowiak