Andrea Wienhaus: Bildungswege zu "1968". Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (= Bd. 63), Bielefeld: transcript 2014, 297 S., ISBN 978-3-8376-2777-0, EUR 29,99
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Manche Bücher lassen den Rezensenten ratlos zurück; so auch die überarbeitete Dissertation von Andrea Wienhaus, Bildungswege zu '1968'. Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Die im Titel suggerierte Kollektivbiografie einer der bedeutendsten Organisationen der westdeutschen Studierendenbewegung wäre ein ambitioniertes und trotz der umfangreichen Literatur zu "1968" ein lohnenswertes Unterfangen. Leider wird dieser Anspruch von der Autorin nicht eingelöst. Die Fokussierung auf Studienunterlagen und Immatrikulationsunterlagen der Freien Universität Berlin von 181 Mitgliedern des SDS im Jahre 1967 ist kaum ausreichend, um allgemeinere Erkenntnisse über die Organisation zu Tage zu fördern. Zwar kann Wienhaus plausibel die Relevanz Westberlins für die 68er-Bewegung begründen, das neben Frankfurt am Main ein Zentrum des Protests war. Dennoch bleibt der Anspruch, einen empirischen Beitrag dazu zu leisten, was die "Akteur_innen von '1968' biografisch tatsächlich kennzeichnet" (43), in der Luft hängen.
Auf den ersten knapp 100 Seiten werden die leitende Fragestellung und der Forschungsstand dargelegt sowie die Quellenproblematik und das methodische Vorgehen reflektiert. Außerdem liefert Wienhaus einen kurzen Überblick über die Geschichte des SDS als Gesamtverband. Derartige Exkurse zur Explikation des historischen Hintergrunds tauchen immer wieder auf, fügen sich jedoch nicht in ein stringentes Narrativ ein. Vielmehr fehlt der Studie ein klarer roter Faden. Die ereignisgeschichtlichen Erläuterungen wirken erzwungen und damit oberflächlich. Anders lässt sich folgender Satz schwer erklären: "Der Zweite Weltkrieg stellt als totaler politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch einen 'Wendepunkt' in der Entwicklung zwischen dem Beginn des 'Dritten Reiches' und '1968' dar." (112) Da sich die Studie im Bereich der historischen Bildungsforschung verortet, werden mehrere Exkurse zur Entwicklung des deutschen Schulsystems und über das humanistische Bildungsideal geliefert. Doch auch hier gelingt die Rückbindung an das eigentliche Thema kaum.
Die Auswertung der empirischen Quellen erfolgt schließlich in zwei Schritten. Zunächst wird eine quantitative Analyse durchgeführt, orientiert an Kriterien wie Familienstand, Mobilität, soziale Herkunft, familiäre Situation und Bildungsweg. Wenig verwunderlich ist, dass die meisten SDS-Mitglieder in einem urbanen Umfeld sozialisiert wurden und die große Mehrheit sich für das Studienfach Soziologie oder eine andere Sozial- bzw. Geisteswissenschaft bewarb. Welcher Erkenntniswert aber in einer seitenlangen Aneinanderreihungen von Zahlen steckt, erschließt sich dem Leser nicht prima facie: "Das nach der Soziologie am zweithäufigsten gewünschte Studienfach ist die Politikwissenschaft (37 Nennungen, 11,2% der Nennungen, 20,4% der Mitglieder), allerdings liegt die Germanistik fast gleich auf mit 36 Nennungen (10,9% der Nennungen, 19,9% der Mitglieder). Weitere gewünschte Studienfächer sind Geschichte (31 Nennungen, 9,4% der Nennungen, 17,1% der Mitglieder) und Philosophie (29 Nennungen, 8,8% der Nennungen, 16,0% der Mitglieder)." (199) Folglich, so die Autorin, wollten SDS-Mitglieder seltener Mathematik, Naturwissenschaft oder Human- und Veterinärmedizin studieren als die Gesamtzahl der Studierenden jener Zeit. Auf die Problematik der kaum untermauerten These Wienhaus' von der "Entbürgerlichung" der Studierendenschaft hat bereits Christina von Hodenberg in ihrer Rezension hingewiesen. [1]
Im Ganzen scheinen sich die Bildungsbiografien der SDS-Mitglieder ohnehin wenig durch spezifische Charakteristika auszuzeichnen. Deshalb flüchtet sich die Autorin gern in unpräzise Schlussfolgerungen, wie etwa: "Zusammengenommen reflektieren die Bildungswege somit einerseits die zeitgenössischen politischen Ereignisse und die Entwicklungen in den jeweiligen Bildungssystemen in jenen Jahrzehnten; andererseits zeichnen sich darin individuelle Bildungsverläufe ab." (158)
Die Schwierigkeit plausibler Konklusionen aus dem ausgewerteten Quellenmaterial benennt Wienhaus dabei in erstaunlicher Offenheit selbst, wenn sie darauf hinweist, dass über die Gründe für die politische Aktivität der hier untersuchten Gruppe von SDS-Mitgliedern auf Grundlage quantitativer Daten und ihrer Analyse eigentlich nichts gesagt werden könne. Dafür sei eine qualitative Auswertung der Bildungsbiografien erforderlich. Diese von der Autorin gezogene Schlussfolgerung über das umfangreichste Kapitel ihrer eigenen Studie verwundert, weil sie das gesamte methodische Vorgehen und die Quellenauswahl in Zweifel zieht. Zugleich wird jedoch beim Leser die Hoffnung auf einen erkenntnisträchtigeren zweiten Teil geweckt.
In dem deutlich kürzeren Abschnitt "Konstruktionen eines 'akademischen Selbst'" werden die handschriftlich verfassten Lebensläufe der Studienbewerber ausgewertet, die in der Länge stark variieren. Doch auch dieser Teil der Studie hebt sich nicht substanziell ab und wiegt die Mängel der quantitativen Analyse nicht auf. So erstaunt es kaum, dass die zukünftigen SDS-Mitglieder sich schon vor ihrem Studium für politische Fragen interessierten. Viele spielten ein Instrument, besuchten das Theater und lasen gerne, besonders auch Goethe und Schiller. Reisen wurden in den Lebensläufen ebenfalls thematisiert: "Mehrere Bewerber_innen erwähnen Freizeitfahrten mit der evangelischen Jugend oder mit der Sportjugend in das In- und Ausland. [...] Private Reisen in eigener Organisation führen erneut vor allem nach Frankreich und Italien, aber auch nach Österreich, Griechenland, in die Türkei und die Schweiz, nach England, Skandinavien, Ungarn, in das 'westliche Ausland', in Einzelfällen aber auch in das außereuropäische Ausland." (235)
Welche Schlussfolgerungen sich daraus ziehen ließen, außer dass es sich bei den meisten späteren SDS-Mitglieder um Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern gehandelt haben dürfte, bleibt völlig unklar. Die Autorin bindet derartige Feststellungen dann an die allgemeinen Zeittendenzen und gesellschaftlichen Entwicklungen zurück, um die Sozialisationsbedingungen der SDS-Mitglieder zu rekonstruieren. Doch geht auch dies kaum über äußerst allgemein gehaltene Aussagen hinaus, die letztlich nichts anderes als Plattitüden sind: "Die von den SDSler_innen thematisierten Aspekte spiegeln, wie gesehen, typische zeitgenössische Entwicklungen in Gesellschaft und Bildungseinrichtungen der frühen Bundesrepublik." (251)
Selbst im Fazit werden die disparaten Aspekte und Erkenntnisse der Studie nicht weiter synthetisiert. Generell verweist das Buch auf das seit einiger Zeit debattierte Problem der Verwendung (sozialwissenschaftlicher) Daten in der historischen (Bildungs-)Forschung und die Aussagekraft sowie Repräsentativität bestimmter Quellengattungen. [2] Zudem stellt sich nach der Lektüre die Frage nach einer möglichen Verbindung von quantitativer und qualitativer Methodik. Diese wichtigen methodischen Fragen harren noch weiterer Kontroversen. Und eine Kollektivbiografie von SDS-Mitgliedern - auch über Berlin hinaus - wäre noch immer ein lohnenswertes Forschungsvorhaben.
Anmerkungen:
[1] Christina von Hodenberg: Rezension zu: Wienhaus, Andrea: Bildungswege zu "1968". Eine Kollektivbiografie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Bielefeld 2014, in: H-Soz-Kult, 12.12.2014, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22887.
[2] Vgl. etwa Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), 479-508 und Jenny Pleinen / Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotentiale und Relevanzgewinne für die Disziplin in: VfZ 62 (2014), 173-195.
Sebastian Voigt