Berenika Szymanski: Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność, Bielefeld: transcript 2012, 303 S., ISBN 978-3-8376-1922-5, EUR 32,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Begriff des Theatralen beziehungsweise der Theatralität entwickelte sich spätestens seit den 1970er Jahren allmählich zu einem kulturwissenschaftlichen Grundkonzept, dessen enorme Produktivität und heuristische Leistungsfähigkeit 1995 mit der Einrichtung eines entsprechenden Schwerpunktprogramms der DFG (mit Teilprojekten zu den performativen Dimensionen von Kultur, Geschichte, Gesellschaft und Politik) bestätigt wurde. Auch die Theaterwissenschaftlerin Berenika Szymanski schließt mit ihrer Dissertation an dieses interdisziplinäre Forschungsparadigma an, um die öffentlichen Proteste in Polen zwischen 1980 und 1989 als Formen theatralen Handelns zu beschreiben. Sie analysiert damit den politischen Umbruch in Polen unter einem Aspekt, der in der zeitgeschichtlichen und der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema zwar bemerkt [1], jedoch bislang nicht systematisch untersucht worden ist.
Die Verfasserin lehnt sich in ihrer Definition des Theatralen zum einen an das einflussreiche Theatralitätsmodell von Erika Fischer-Lichte an, das die vier Elemente Performanz, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung zusammenführt, zum anderen ergänzt sie diese Konstellation um eine weitere Dimension, die für ihre Analyse der Protestaktionen unerlässlich ist. Indem sie Politik mit Jacques Rancière als Kampf um die Sicht- und Hörbarkeit im öffentlichen Raum versteht, versucht sie, Theatralität als ein konstitutives Element der politischen Auseinandersetzung in Polen auszuweisen. Im Fokus der Untersuchung stehen neben den bereits vielfach beschriebenen Streiks, Demonstrationen, Verhandlungen, Gottesdiensten und Gedenkfeierlichkeiten der Gewerkschaft Solidarność zahlreiche, in der Forschungsliteratur bislang kaum gewürdigte Aktivitäten kleinerer Gruppierungen wie der Kämpfenden Jugend (Młodzież Walcząca), der Aktivisten von Freiheit und Frieden (Wolność i Pokój), vor allem aber der Happening-Bewegung Orange Alternative (Pomarańczowa Alternatywa). Als das gemeinsame Ziel dieser opponierenden Kräfte hält Szymanski den Versuch fest, in der vom staatssozialistischen Regime etablierten und stabilisierten Ordnung des Sicht- und Hörbaren Räume für die Artikulation von Widerstand und Dissens zu schaffen. Die Verfasserin vereint in ihrer Untersuchung unterschiedliche Ansätze, unter anderem Jürgen Habermas' Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit und dessen Revision in Nancy Frasers Konzept der Gegenöffentlichkeit, Rudolf Münz' Überlegungen zu "Theatralitätsgefügen" und Rancières Verständnis von Politik, die sich in Akten der Subjektivierung und Wortergreifung realisiert. Gegenstand der Analyse sind Aktionen im öffentlichen Raum, die durch ein hohes Maß an Theatralität gekennzeichnet und dadurch in der Lage waren, die Massen zu mobilisieren und eine Gegenöffentlichkeit zu erzeugen, in der die Akteure sich als politisches Subjekt konstituieren konnten. Auf diese Weise gelingt es der Verfasserin, die gesellschaftsformierende Kraft theatraler Protestformen deutlich zu machen. Die fokussierten Ereignisse werden auf Grundlage archivalischer und publizierter Quellen unterschiedlicher Art sowie von Interviews mit Zeitzeugen rekonstruiert und analysiert.
Szymanski folgt dabei der Chronologie des Zeitgeschehens 1980-1989. Nach einem einleitenden Kapitel, in dem sie ihr theoretisches Instrumentarium entwickelt, schildert die Verfasserin zunächst die Strukturen und Mechanismen der gelenkten Öffentlichkeit in Polen, um dann an einer Fülle von Beispielen theatrale Strategien zur Erzeugung von Gegenöffentlichkeit darzulegen. Szymanski beginnt ihre Rückschau auf das "Jahrzehnt der Solidarność" (Hartmut Kühn) mit dem Danziger Auguststreik von 1980, den sie in seiner Bedeutung für die Etablierung von Bühnenräumen sowie spezifischen Handlungsformen untersucht. In den folgenden Kapiteln werden dann die Verlagerung des Protestes in die Frei- und Schutzräume der katholischen Kirche nach der Verhängung des Kriegsrechts und der Delegalisierung der Gewerkschaft, seine Erstarrung in rituellen, national-religiösen Formen sowie das Durchbrechen des Ritualisierten in den Happenings der Orangen Alternative behandelt. Szymanski konstatiert für die zweite Hälfte der 1980er Jahre eine schwindende Bereitschaft der Bevölkerung, an den Protesten der Solidarność teilzunehmen. In diesem Kontext wertet sie die subversiven, spielerischen Aktionen der Orangen Alternative, die explizit politischen Protest mit einer Kritik an der Rhetorik und den theatralen Strategien der Gewerkschaft verknüpften, als einen "wichtigen Motor für neue Proteste" (263). Die Happenings wirkten insofern den Ängsten der Bevölkerung und der zunehmenden Resignation unter den Oppositionellen entgegen und trugen so entscheidend zum politischen Umbruch von 1989 bei.
Da Theatralität im Sinne der Verfasserin immer auch die Konstruktion spezifischer Bedeutungen beinhaltet, werden die Protestaktionen sowohl in ihrer Form als auch in ihren Inhalten analysiert. Szymanski vermag hier ohne Zweifel einige Einblicke in die Geschichte und Kultur Polens zu geben, für versierte Leser jedoch bieten gerade die Ausführungen zum "polnischen Nationalgefühl" (mit einem längeren Exkurs über die polnische Nationalhymne) oder zur "Bedeutung des katholischen Glaubens für Polen" wenig Neues. Man mag darüber streiten, ob Mickiewiczs Dziady (Ahnenfeier) zutreffend als "äußerst antirussisch" (144) und Czesław Miłosz als "verbannter Dichter" (202) charakterisiert werden können. Schwerer wiegt, dass die Verfasserin in diesen überwiegend deskriptiv angelegten Kapiteln stellenweise hinter ihr eigenes theoretisches Reflexionsniveau zurückzufallen scheint, vor allem dort, wo sie ihre Begrifflichkeit nicht hinreichend differenziert beziehungsweise historisiert ("Volk", "Nation", "Gesellschaft") oder - dies allerdings selten - die Sprache ihrer Quellen übernimmt. Auch wäre zu überprüfen, ob der Begriff des Aushandelns von Sicht- und Sagbarkeit in jedem Fall der besonderen Logik theatralen Handelns angemessen ist. Schließlich drängt sich die Frage nach den Grenzen und dem Erkenntnisgewinn eines auf "Theatralität" fokussierten Zugangs auf, etwa wenn die Verfasserin aus ihren durchaus lesenswerten, vorwiegend auf archivalisches Material gestützten Ausführungen zur Rolle der polnischen Staatssicherheit die Schlussfolgerung zieht, dass "die SB [...] im öffentlichen Raum verdeckt handelte", weshalb ihre "operative Tätigkeit [...] aus gegebenen Gründen [...] nicht theatral" war und "ihre Mitarbeiter zwar im allgemeinen Sinn als Akteure bezeichnet werden können, doch nicht als theatrale Akteure, da ihre Handlung nicht bewusst herausgestellt war" (97).
Insgesamt jedoch hat die Verfasserin eine informative und abwägend argumentierende Studie vorgelegt, die ein breites Spektrum der oppositionellen Gruppierungen und der von diesen benutzten theatralen Strategien in den Blick nimmt. Damit werden wichtige Akteure des politischen Umbruchs in Polen sichtbar, die in der politikwissenschaftlichen Forschung bislang keine Rolle spielten.
Anmerkung:
[1] Kazimierz Braun: Teatr polski 1939-1989 [Polnisches Theater 1939-1989], Warszawa 1994; Andrzej Paczkowski: Strajki, bunty, manifestacje jako "polska droga" przez socjalizm [Streiks, Aufstände, Kundgebungen als der "polnische Weg" durch den Sozialismus], Poznań 2003; Jerzy Eisler: Polskie miesiące czyli kryzysy w PRL [Polnische Monate oder Krisen in der VRP], Warszawa 2008.
Katarzyna Śliwińska