Markus Krzoska: Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 436 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78085-0, EUR 39,90
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"Die polnische Gesellschaft machte sich 1945 auf den Weg zu einer beschleunigten Reise voller Abenteuer [...] - mit Zügen von Osten nach Westen, und von den Dörfern in die Städte." Mit diesen Worten begannen die beiden Journalisten Jerzy Urban und Dariusz Fikus im Jahre 1968 ein schmales Bändchen, in dem sie den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel im staatssozialistischen Polen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte Revue passieren ließen. [1] Das damals von Urban und Fikus gezeichnete, insgesamt optimistische Bild einer "Gesellschaft unterwegs" greift Markus Krzoska nun als Leitmotiv seiner "Kulturgeschichte Polens seit 1945" auf (ohne freilich direkt darauf Bezug zu nehmen).
Krzoska möchte Mobilität als Schlüsselbegriff der polnischen Zeitgeschichte seit 1945 verstanden wissen und unternimmt es in seiner Gießener Habilitationsschrift, gängige politikgeschichtliche Deutungen der polnischen Nachkriegsgeschichte einer Revision zu unterziehen. Folgerichtig plädiert er für eine Relativierung der Zäsur von 1989 und nimmt den Zeitraum vom Kriegsende bis in die jüngste Vergangenheit in den Blick. Wohin die historiographische Reise geht, illustriert der auf dem Buchumschlag abgebildete Polski Fiat auf Urlaubsfahrt, also jener millionenfach in Lizenz gefertigte Kleinwagen, der zur Ikone des Konsumsozialismus der Gierek-Zeit wurde. Den Fluchtpunkt von Krzoskas Darstellung bilden nämlich weder die (vielfach erzwungenen) Migrationsbewegungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch die (ebenfalls politisch forcierte) soziale Mobilität während des polnischen Hochstalinismus, sondern vielmehr die Alltags- und Konsumkultur der späteren Jahrzehnte. Mit diesem Fokus auf das Alltägliche und Gewöhnliche möchte Krzoska erklärtermaßen der Exotisierung der polnischen Geschichte die Grundlage entziehen, die sowohl im orientalisierenden Blick aus dem Westen als auch in heimischen Mythen von der Einzigartigkeit der polnischen Widerstands- und Freiheitsgeschichte nur zu gern gepflegt wird.
Krzoskas Verständnis von "Kulturgeschichte" ist ein ausgesprochen weites: Nach einer programmatischen Einleitung und einem knappen Abriss der Vorgeschichte bis zum Zweiten Weltkrieg setzt er zunächst mit genuin sozialgeschichtlichen Abrissen zu Sozialstruktur und "Klassen" im Staatssozialismus ein. Anschließend präsentiert er seine Überlegungen zur Bedeutung von Mobilität und Migrationen für die polnische Zeitgeschichte, bevor er auf klassische Problemfelder der Forschung wie das Spannungsfeld zwischen Herrschaft, Anpassung und Widerstand eingeht. An detailreiche Skizzen zu verschiedensten Facetten des staatssozialistischen Alltags schließt er vergleichsweise konventionelle Betrachtungen zu den außenpolitischen Beziehungen Polens zu seinen europäischen Nachbarn an. Die letzten drei Kapitel befassen sich schwerpunktmäßig mit den gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Systemtransformation, wobei Krzoska auch dem aufkeimenden Regionalismus und den für die politische Kultur Polens so charakteristischen Geschichtsdebatten eigene Kapitel widmet.
Dass die Politikgeschichte weitgehend ausgespart bleibt, ist im Lichte der von Krzoska zu Recht kritisierten "Politikzentriertheit" der bisherigen Geschichtsschreibung (25) nachvollziehbar. Wie das breite thematische Spektrum zeigt, bietet er weniger eine Kulturgeschichte im engeren Sinne als eine kulturalistisch inspirierte Gesellschaftsgeschichte. Dabei präsentiert sich Krzoska als intimer Kenner sowohl der polnischen als auch der westlichen Sekundärliteratur und schreibt durchweg auf der Höhe der Forschung. Zu traditionalistischen Narrativen hält er geschickt Distanz, vermeidet aber zugleich die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten und in bilderstürmerischer Manier radikale Gegenpositionen zu beziehen. Der Duktus seiner Darstellung ist vielmehr differenzierend und durchgängig ausgewogen.
Auf diese Weise wird thematisch vieles angerissen: von der misslungenen Kollektivierung der Landwirtschaft bis zum Höhenflug des polnischen Jazz, von der ambivalenten Modernisierung der Gender-Beziehungen im Staatssozialismus bis zur nachhaltigen gesellschaftlichen Wirkmacht des polnischen Papstes - um nur einiges zu nennen. Da Krzoska sich auf die Auswertung der verfügbaren Forschungsliteratur sowie (vor allem für die Zeit nach 1989) auf Internetquellen beschränkt, spiegelt seine Darstellung freilich auch deren Lücken wider, wie er selbst freimütig einräumt. Zuweilen fallen seine Befunde deshalb recht allgemein aus - dies gilt insbesondere in Bezug auf die gegenwartsnahe Zeitgeschichte seit 1989. Hier hätte man sich stellenweise etwas mehr analytische Kontur und exemplarische Vertiefung gewünscht.
Nichtsdestoweniger erweist sich das von Krzoska programmatisch in den Mittelpunkt gerückte Paradigma der Mobilität als ausgesprochen anregend - und eben deshalb fordert es auch kritische Rückfragen heraus. Wer sich auf den Weg macht, kommt schließlich nicht immer dort an, wohin er aufgebrochen ist. Dies lässt sich beispielhaft anhand der Lebenswege von Dariusz Fikus und Jerzy Urban aufzeigen, die ausgerechnet in den von vielen Intellektuellen als lähmend empfundenen späten Gomułka-Jahren die soziale Aufwärtsmobilität im kommunistischen Polen gepriesen hatten. Hatten sie ihre journalistischen Skizzen damals noch einträchtig als Redaktionskollegen der als liberal geltenden Wochenzeitung "Polityka" publiziert, fanden sie sich eine Dekade später auf verschiedenen Seiten der Barrikade wieder, die die polnische Gesellschaft einstweilen spaltete: Während Fikus seinen Redakteursposten bei dem Parteiblatt nach Einführung des Kriegsrechts aufgab und konspirativ für die oppositionelle Untergrundpresse arbeitete, avancierte Urban zum Regierungssprecher des Jaruzelski-Regimes und wurde mit seinen zynisch-provokanten Auftritten zu einer der meistgehassten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Fraglos spiegelt sich in solchen Biographien wider, wie viel auch im vermeintlich so "wenig dynamischen Gesamtsystem" Volkspolens (171) in Bewegung war. Welchen Beitrag aber kann ein analytischer Fokus auf Mobilität konkret leisten, um diesen konfliktträchtigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Wandel genauer zu konturieren?
Mit Blick auf die übergreifende Dynamik der polnischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte seit 1945 drängt sich die Frage auf, ob räumliche und soziale Mobilität eher zu gesellschaftlicher Homogenisierung führten, wie es die Zwangsmigrationen nach Kriegsende und die Industrialisierungspolitik der frühen Volksrepublik in ethnisch-nationaler und sozialer Hinsicht taten - oder ob sie vielmehr Heterogenität begünstigten wie die marktwirtschaftliche Transformation seit den 1980er Jahren und die Erwerbsmigrationen im Zeitalter von Billigflieger und Internet. Und wie passen die massenhaften eigenen Erfahrungen der Polinnen und Polen mit Arbeitsmigration wiederum zu der verbreitet ablehnenden Haltung gegenüber kultureller Heterogenität und Einwanderung? Solche Ambivalenzen und daraus resultierende Konfliktdynamiken bleiben in Krzoskas Zugriff insgesamt ein wenig unterbelichtet.
Seinen Anspruch, "eingefahrene Denkmuster in Frage zu stellen" (288) und "neue Sichtachsen zu entwickeln" (291), löst Krzoska zwar souverän ein. Welches neue Gesamtbild sich aber nach der Dekonstruktion der alten Gewissheiten aus diesen "Sichtachsen" ergibt, bleibt etwas opak. Angesichts der von ihm explizit angestrebten Verortung Polens in gesamteuropäischen Kontexten überrascht es beispielsweise, dass Krzoska die für die westeuropäische Zeitgeschichte intensiv diskutierte Frage eines Epochenbruchs in den 1970er Jahren nicht aufgreift und etwa für eine differenzierte Neubewertung der Transformationszeit fruchtbar macht.
Letzten Endes kann Krzoskas erklärtes Anliegen, Polen jenseits aller Teleologie als "ganz normales Land" (289) zu präsentieren, seine Zeitgebundenheit nicht ganz verleugnen. Es weist frappierende Ähnlichkeiten zu jenem Wunschbild auf, das sich die liberalen Transformationseliten von Polen machten und das Donald Tusk seinen Landsleuten jahrelang mit großem Erfolg als politisches Programm anbot, indem er statt ideologischer Deklamationen den Bau von Autobahnen und das sprichwörtlich gewordene "warme Wasser aus der Leitung" versprach. Wenn Krzoska etwa die oppositionelle Massenbewegung der Solidarność "letztlich" als "Freizeitphänomen" verstanden wissen will (164), so offenbart sich darin die Perspektive eines postideologischen Zeitalters, das spätestens seit dem Wahlsieg der Rechtspopulisten in Polen Ende 2015 seinerseits schon wieder historisch geworden zu sein scheint. Angesichts der massiven Attacken der neuen polnischen Regierung gegen die politische und gesellschaftliche Ordnung, wie sie seit 1989 begründet wurde, liest sich Krzoskas Synthese streckenweise wie ein Echo jener Jahre, als west- und mitteleuropäische Selbstverständlichkeiten auch in der polnischen Öffentlichkeit noch selbstverständlich waren.
Solche Effekte gehören freilich zu den unvermeidbaren Risiken gegenwartsnaher Zeitgeschichtsschreibung. Ungeachtet punktueller Einwände ist Krzoskas problemorientierter Überblick über die polnische Nachkriegsgeschichte uneingeschränkt empfehlenswert, insbesondere als Einstiegslektüre für die akademische Lehre und einen breiten Kreis von historisch-politisch Interessierten. Sein nuanciertes Panorama der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung animiert zum Weiterdenken und lädt zu vertiefenden Erkundungen der polnischen Zeitgeschichte geradezu ein. So trägt es hoffentlich dazu bei, dass auch die auf Polen und (Ost-)Mitteleuropa bezogene Geschichtswissenschaft weiter in Bewegung bleibt.
Anmerkung:
[1] Dariusz Fikus / Jerzy Urban: Społeczeństwo w podróży, Łódź: Wydawnictwo Łódzkie, 1968, 5.
Florian Peters