Matthias Müller: Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949-1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht (= Politik und Geschichte; Bd. 8), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012, VIII + 603 S., ISBN 978-3-643-11786-1, EUR 59,90
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Das Thema Flucht und Vertreibung und der Diskurs darüber erlebten in den vergangenen Jahrzehnten einige Konjunkturen. Der großen Welle von Erinnerung und Gedächtnis folgten in der jüngsten Vergangenheit Studien zu den Vertriebenenverbänden, ihren Akteuren und deren Interaktionen mit Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland sowie zur Perspektive der DDR auf diese Organisationen. Die vorliegende Dissertation von Matthias Müller ist ebendiesem Feld zuzuordnen.
Konsens und Dissens - unter diesen antagonistischen Schlagworten ist die Beziehung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und den organisierten Vertriebenen im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik abgespeichert. Müller übersetzt diese beiden Begriffe mit Eintracht - Entfremdung - Zwietracht, um die ereignisreiche Zeitspanne zwischen 1949 und 1977 zu charakterisieren. Welche Fragestellung und welche - gegebenenfalls neuen - Quellen fügen diesem eher unter "bekannt" abgelegten Thema neue Schlaglichter, neue Aspekte, neue Interpretationen hinzu?
In dem 21 Seiten umfassenden Quellen- und Literaturverzeichnis finden sich neben unerheblichen Problemen mit der alphabetischen Reihenfolge (Gr vor Gö) weitere unschöne Fehler. Der in Tschechien lehrende Historiker Adrian von Arburg, unter den Autoren zum Thema Flucht und Vertreibung als eine der "wichtigsten und neuesten Erscheinungen seit der Jahrtausendwende" (26) bezeichnet, erscheint durchgehend als "Artburg", aus dem renommierten Forscher Michael Schwartz wird "Schwarz". Der Beitrag über die SPD und die Vertriebenenverbände von Johann Heinrich Frömel taucht im Literaturverzeichnis erst gar nicht auf. [1] Auch die korrekte Schreibweise der Namen der tschechoslowakischen Politiker Štrougal und Chňoupek (515) sollte heutzutage kein Problem mehr darstellen. Die Fehler und Ungenauigkeiten dieser Art irritieren.
Müller beginnt klassisch mit einer Darlegung seiner Vorgehensweise, der Quellenbasis und des Forschungsstands. Zentral ist für ihn die Frage, ob die SPD eine Politik "hinter dem Rücken der Vertriebenen" geführt hat (32). In den Mittelpunkt stellt er wichtige Akteure der organisierten Vertriebenen einerseits und Spitzenpolitiker der SPD andererseits. Das sind Wenzel Jaksch, der als ehemaliger sozialdemokratischer Politiker in der Ersten Tschechoslowakischen Republik in der Bundesrepublik als Vorsitzender der Seliger-Gemeinde der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) fungierte und Mitte der 1960er Jahre zum Präsidenten des Bundes der Vertriebenen (BdV) aufstieg, sein Nachfolger Reinhold Rehs sowie Herbert Hupka, der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, der ab 1970 als stellvertretender Präsident auch zu den wichtigsten Repräsentanten des BdV gehörte. Größen der Sozialdemokratie wie Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Willy Brandt, Egon Bahr und Helmut Schmidt sind aufs Engste verbunden mit der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik und/oder der Neuen Ostpolitik, die seinerzeit ausgesprochen kontrovers diskutiert wurde. Müller zeigt auf, dass Kurt Schumachers "Quadratmeterlosung" - keine Aufgabe auch nur eines Quadratmeters deutschen Bodens östlich von Oder und Neiße -, das stärkste Bindeglied zwischen SPD und Vertriebenen war, und zwar weit über den Tod des SPD-Vorsitzenden im August 1952 hinaus.
Dem Dreigestirn Jaksch - Rehs - Hupka ist ein verhältnismäßig langer Prolog vorangestellt, in dem das Verhältnis zwischen den Vertriebenen und der SPD in der ersten Dekade nach Gründung der Bundesrepublik nachgezeichnet wird. Die SPD, die man in der Tat lange Zeit als "Partei der Ortsfremden" [2] wahrnahm, "empfahl sich [...] als künftiger Partner der Heimatvertriebenen" (45). Allerdings mischten sich bereits in den 1950er Jahren Misstöne unter den Dreiklang von "Selbstbestimmungsrecht", "Recht auf Heimat" und "Quadratmeterlosung". Carlo Schmid äußerte sich bereits 1956 als erster öffentlich zum "Tabubruch" einer möglichen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie.
Als "Charme-Offensive" bezeichnet der Autor das verstärkte Werben der Sozialdemokratie um die Vertriebenen ab dem Jahr 1960. In diesem zweiten großen, auf die Jahre zwischen 1960 und 1965 beschränkten Kapitel ("Eintracht") geht es längst nicht nur um Harmonie. In diese Zeit fielen viele Ereignisse und Auseinandersetzungen, die schwere Kerben in das Beziehungsgefüge zwischen SPD und Vertriebenenverbände schlugen. Müller beschreibt den großen Konflikt mit der mächtigen Sudetendeutschen Landsmannschaft um die Bewertung des "Münchner Abkommens" von 1938, also die Frage, ob der "Vertrag" ex nunc oder ex tunc als unrechtmäßig zu betrachten sei. Fast überflüssig zu erwähnen, dass Egon Bahrs Tutzinger Rede zum "Wandel durch Annäherung", die den Startschuss für den Paradigmenwechsel der außenpolitischen Konzeption der SPD gab, mitten in das Konstrukt der "Eintracht" fällt. Und der Autor selbst arbeitet in seinem Exkurs zur Vertriebenenpolitik Willy Brandts heraus, dass dessen Reden bereits 1963 von eingefrorener Rhetorik und geschicktem Lavieren zwischen alten Formeln und neuen Wahrheiten geprägt gewesen seien (252 ff.). Auch Wenzel Jaksch geriet zunehmend ins Abseits.
Das folgende Kapitel "Entfremdung" deckt sich im Wesentlichen mit der Phase der Großen Koalition, wobei das Verhältnis erst endgültig kippte, als der BdV gegen die Neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition zu Felde zog und offene "Zwietracht" herrschte, um mit den Worten des Autors zu sprechen.
Matthias Müller stellt das Beziehungsgeflecht zwischen SPD und organisierten Vertriebenen als Ereignisgeschichte dar. Die breite Quellengrundlage beeindruckt, aber es fehlen nicht nur interpretative Anteile im Sinne der Fragestellung, auch der Forschungskontext bildet weitgehend eine Leerstelle. So findet sich an verschiedenen Stellen im Text "München 38", hingegen der von Fritz Taubert herausgegebene einschlägige Sammelband zu diesem bis heute emotional diskutierten Thema nirgends. [3] In der Aufarbeitung des Forschungsstands sucht man die Studie von K. Erik Franzen über die Entstehungsgeschichte der Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen vergebens. Über weite Strecken besteht der Anmerkungsapparat aus Quellenangaben und Hinweisen auf das Standardwerk zur Geschichte des BdV von Matthias Stickler, das Müller nachzuzeichnen und mit Zitaten aufzufüllen scheint. [4] Immer wieder stechen leicht abgewandelte Formulierungen ins Auge: Sticklers "Schlingerkurs der SPD" wird hier zum "richtungslosen Kurs der SPD" (316). Franzens "Liebeswerben um Vertriebene" (in dem Fall der CSU) ist bei Müller die "Charme-Offensive" der SPD. Ein Fokussieren auf die Schnittstellen von politischem Handeln und Rhetorik wäre interessant gewesen, doch dies verhindert nicht zuletzt die holzschnittartige Einteilung.
Am Ende findet sich dann doch noch die lang ersehnte Positionierung des Autors mit einer Zukunftskomponente im Gepäck. Sein Buch ist als potentielle Grundlage einer Wiederannäherung zwischen BdV und SPD im Sinne der Stiftung Flucht, Vertreibung Versöhnung angelegt. Ein in der Tat versöhnlicher Ausklang einer methodisch problematischen Studie.
Anmerkungen:
[1] Johann Heinrich Frömel: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Vertriebenenverbände 1949 bis 1969. Vom Konsens zum Dissens, Bonn 1999.
[2] K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974, München 2010, 95.
[3] Fritz Taubert (Hg.): Mythos München - Le Mythe de Munich - The Myth of Munich, München 2002.
[4] Matthias Stickler: Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972, Düsseldorf 2004.
Susanne Greiter