Rezension über:

Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des "real existierenden Sozialismus" (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 121), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, VII + 348 S., 13 Farb-, 4 s/w-Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-11-052914-2, EUR 54,95
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Rezension von:
Nikolai Okunew
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Nikolai Okunew: Rezension von: Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des "real existierenden Sozialismus", Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/33839.html


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Konrad Sziedat: Erwartungen im Umbruch

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Die veröffentlichte Dissertation von Konrad Sziedat ist ein Buch voller Enttäuschungen. Gemeint sind allerdings weder die Forschungsleistung noch der Schreibstil, sondern das Thema der Arbeit, die sich mit den Erwartungen westdeutscher Linker in den 1980er und frühen 1990er Jahren an den osteuropäischen Staatssozialismus auseinandersetzt. Da hier positive Erwartungen (Hoffnungen) und negative Erfahrungen (5f.) meist kollidierten, stellte sich im untersuchten Personenkreis häufig Enttäuschung ein (225).

Sziedat nähert sich der recht heterogenen Gruppe, die vor allem aus Maoist*innen, Trotzkist*innen, Grünen, Ex-Spontis und undogmatischen Linken besteht, mit den Methoden der historischen Netzwerkanalyse. Ausgespart werden die Akteur*innen der Regierungspartei SPD, sowie der DKP/SEW. So werden pragmatisch jene westdeutschen Linken in den Blick genommen, die sich mit einer besonderen Intensität für die Ereignisse im Osten Europas interessierten und engagierten. Das Sprungbrett für die Untersuchung bildet die Hilfsaktion "Solidarität mit Solidarność" Anfang der 1980er Jahre (Kapitel II). In chronologischer Reihenfolge richtet der Historiker seinen Blick anschließend auf die Debatten zur Reformpolitik Michail Gorbatschows ab 1985 (Kapitel III) sowie auf das Ende des (ostdeutschen) Staatssozialismus (Kapitel IV) und schließlich auf die Folgen der deutsch-deutschen "Wiedervereinigung" (Kapitel V).

Um die verschiedenen und sich wandelnden Netzwerke greifbar zu machen, untersucht Sziedat die Beteiligung von Personen an "zentralen Aktionen und Initiativen" (8). Aus einem Pool von 1600 Beteiligten kann er so ein Sample von rund "100 linken Aktivisten, Akademikern und (Berufs-)Politikern" (ebd.) bilden, deren Wege und vor allem deren publizistische Tätigkeiten er dann im Untersuchungszeitraum weiterverfolgt. Besonders spannend ist die Rolle von Exilant*innen wie dem Liedermacher Wolf Biermann oder dem Politologen Zdeněk Mlynář in diesen teils transnationalen Netzwerken. Sziedat betreibt einen enormen prosopografischen Aufwand, der sich in - für den Rezensenten beeindruckenden - Heat-Maps und Netzwerkgrafiken niederschlägt (231-243). Es ist bedauerlich, diese Grafiken erst am Ende des Buches zu finden und nicht an jenen Stellen im Fließtext, an denen diese Personenzusammenhänge analysiert werden.

Neben den Personen werden, wie bereits angedeutet, außerdem deren Texte untersucht. Um Erwartungen und Enttäuschungen untersuchbar zu halten, greift Sziedat dazu auf die Historische Semantik zurück (7f.). Wenig überraschend fochten die zahlreichen linken gens de lettre semantische Kämpfe um zentrale Begriffe aus. Viel Neues erfährt man hier über die Ursprünge des deutschen Neologismus "Zivilgesellschafft" (196-207), die "friedliche Revolution" (226) oder den "Dritter Weg" (ebd.); ein Begriff dessen Karriere derzeit im politischen Orkus zu enden scheint.

Quellenmäßig stützt sich die Untersuchung vor allem auf die Archive der SPD (hier etwa die Bestände zu Björn Engholm, Eberhard Eppler und Tomáš Kosta) und die der Grünen (hier etwas die Bestände zu Petra Kelly, Wilhelm Knabe oder Joschka Fischer). Zusätzlich zog Sziedat weitere kleine Bestände aus Archiven wie der (ehemaligen) BStU, der Robert-Havemann-Gesellschaft oder dem Hamburger Institut für Sozialforschung heran. Zentral für die Untersuchung sind also Tischvorlagen, Protokolle, Zeitschriften, Briefe, Zeitschriften, sowie Graue Literatur, wie beispielsweise Samisdate (11f.). Entsprechend der Fragestellung handelt es sich demnach um eher trockene Texte - oftmals zu unterschiedlichen Theorien und Programmatiken - die allerdings in sprachlich ansprechender Form aufgearbeitet und präsentiert werden.

Sziedat untersucht, wie Personen in Netzwerken Erwartungen handhabten und regulierten. Biermann und Mlynář etwa seien in den 1980er Jahren Teil einer "Erwartungsgemeinschaft" (79) gewesen, die auf ein Zusammengehen von Sozialismus und Demokratie hofften. Mlynář haben mit wissenschaftlichen Mitteln, aber auch unter Heranziehung seiner Biografie - der Dubček-Berater war außerdem ein Studienfreund von Gorbatschow - in den 1980er Jahren entsprechende Hoffnungen untermauert (80f.). Während sich Dogmatiker alsbald von Gorbatschow abwandten, sei Mlynář im Umfeld der Grünen und der Sozialdemokratie durchaus erfolgreich dabei gewesen, den Generalsekretär als Folge des Prager Frühlings zu framen. Beide Parteien hätten diese Interpretation genutzt, um Erzählungen jenseits des hegemonialen Kapitalismus zu entwickeln (116f.)

Entsprechend hoch seien dann auch die Erwartungen an die Ereignisse in der späten DDR gewesen. Westdeutsche Veteranen*innen der Solidarność-Initiative hätten zeitweilig gar einen Demokratievorsprung in der DDR gesehen und daher Hoffnungen auf neuen Formen des Sozialismus verbreitet. Sziedat zeigt hier eindrücklich, wie der Revolutionsbegriff in Bezug auf die DDR in der Bundesrepublik mit dem Wunsch nach der Beibehaltung der Zweistaatlichkeit verbunden war, aber auch wie dieser durch die Geschwindigkeit des Wiedervereinigungs-Prozesses 1990 einen Bedeutungswandel bzw. -verlust erlebte (164f.). Im Sinne eines Erwartungsmanagements sei die hoffnungsvolle Suche nach einem "Dritten Weg" aber nicht einfach verflogen, sondern habe sich auf die Diskussionen um Verfassung und Gesetze verlagert (164).

In den 1990ern habe sich die SPD semantisch neuaufgestellt und den Sozialismus-Begriff in der Programmatik immer weiter marginalisiert (222). Überzeugend zeigt Sziedat wie die Agenda 2010 somit einen Vorlauf bis ins Jahr 1989/1990 hat (186f.). Auch der Begriff der "Zivilgesellschaft", der vor 1990 eng mit dem Sozialismus verknüpft gewesen war, habe nun innerhalb der Linken verstärkt dazu gedient, sich von marxistischen Vorstellungen zu lösen (200f). Einige westdeutsche Aktivist*innen hätten sich in den frühen 1990ern dann ganz von den gesellschaftlichen Kämpfen entfernt und sich in ländliche Gemeinschaften zurückgezogen. Die westdeutschen Kommunard*innen hätten dabei, nicht zuletzt aufgrund der Immobilienpreise, durchaus Potential in den Neuen Ländern gesehen (217-222).

Das Buch ist insgesamt angenehm lesbar. Eine angemessen knappe Einleitung und konzise Zusammenfassungen am Ende der Kapitel erleichtern die Orientierung in dem Netz aus Begriffen, Gruppen und Personen. Eher irritierend sind einzelne Parallelargumentationen, die sich in vollständigen Sätzen in Klammern im Fließtext finden und wohl gekürzt oder argumentativ integriert gehört hätten (etwa 96, 173). Eine kuriose Häufung des Wortes "rezent" auf den Seiten 197-201 sticht negativ aus dem sehr gut lektorierten Band hervor.

Grundsätzlich hätte eine stärkere Verbindung der Konzepte - Management und Transformation von Erwartung bzw. Enttäuschung - mit der Darstellung des Quellenmaterials dem Buch gutgetan. In einigen Unterkapiteln kommen sie erst ganz zu Ende zur Anwendung, wodurch man sich in den langen und eher deskriptiven Abschnitten teils verloren fühlt. Die vorgebrachten Argumente und Analysen überzeugen letztlich zwar, doch wäre hier eine stärkere Platzierung im historischen Kontext besser gewesen. Nicht immer ist klar, warum und mit welchen gesellschaftlichen Folgen das jeweilige Erwartungsmanagement betrieben wurde. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass nur sehr vereinzelt Gruppen außerhalb der Diskussionsteilnehmer*innen auftauchen, über die eine gesellschaftliche Kontextualisierung hätte gelingen können (etwa 185). Wenn einer von Sziedats Befunden eben ein eher eremitischer Charakter der untersuchten Vorgänge ist, dann hätte das klarer herausgearbeitet werden können.

Zusammenfassend handelt es sich bei "Erwartungen im Umbruch" um eine gut lesbare Darstellung komplexer transnationaler Diskussions-Prozesse, deren Enden - schon allein durch die teils weiterhin aktiven Protagonist*innen - bis in die Gegenwart reichen. Insbesondere bei der anstehenden Erforschung der 1990er Jahre, dem Aufstieg der Grünen zu Regierungspartei und dem Siegeszug marktoptimistischer Ideen innerhalb der Sozialdemokratie, wird Sziedats Buch wohl viel gelesen und zitiert werden.

Nikolai Okunew