Norbert Kersken / Grischa Vercamer (Hgg.): Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 27), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, 500 S., ISBN 978-3-447-06886-4, EUR 64,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Tagungsband, der neben Herrschaft und Herrschaftsbeschreibung zugleich das Verhältnis von konkreter politischer Herrschaft und Historiografie im Hochmittelalter (12. und 13. Jahrhundert) näher untersuchen will, ist das Ergebnis einer vom Deutschen Historischen Institut Warschau 2011 veranstalteten Konferenz. Hervorzuheben ist der länderübergreifende Ansatz, der hier Räume vom Reich, Dänemark, England, Frankreich, Polen, Böhmen, Ungarn, Byzanz bis zum Königreich Jerusalem überspannt. Eingeleitet wird der Band von Grischa Vercamer, der die Oberbegriffe der Konferenz "Macht" und "Herrschaft", das Verhältnis der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zur Herrschaft und die Spiegelmetapher reflektiert und nach Parallelen sowie Unterschieden in den hochmittelalterlichen Regionen Europas fragt.
Unter der grundsätzlichen Fragestellung nach Macht, Geschichtsschreibung und Legitimation befasst sich Joachim Ehlers mit Macht im Kontext der historiografischen Literatur im lateinischen Europa des Mittelalters, wobei er die schwierige Frage der Vergleichbarkeit der Chroniken und Chronisten exemplarisch vertieft. Norbert Kersken konzentriert sich in seinem Überblick auf das Verhältnis von Macht und Geschichtsschreibung in Chroniken vom 7. bis zum 11. Jahrhundert Hans-Werner Goetz thematisiert die Legitimation und Delegitimation von Herrschaft durch historische Argumentation in der Geschichtsschreibung. Mit Gesetz, Gerechtigkeit und Königtum befassen sich Mia Münster-Swendson und Thomas Foerster für Dänemark. Björn Weiler und Alheydis Plassmann beschäftigen sich mit Machtstrukturen, -vorstellungen und -bedingungen am Beispiel Englands. Georg Jostkleigrewe und Julian Führer weiten den Blick auf Frankreich, wobei politische Kommunikation sowie die Chroniken von Suger von Saint-Denis und Guillaume de Nangis im Mittelpunkt stehen. Julia Becker widmet sich Gaufredus Malaterra sowie Hugo Falcandus. Claudia Garnier und Heinz Krieg rücken die Staufer in den Fokus. Małgorzata Dąbrowska und Ralph-Johannes Lilie blicken in ihren Beiträgen nach Byzanz. Der Band wird beschlossen mit Beiträgen von Marie-Luise Favreau-Lilie zu Wilhelm von Tyrus und und Kay Peter Jankrift zum Herrscherbild des Usāma ibn MunquiḎ.
Für die Ostmitteleuropaforschung sind die Beiträge zur Chronistik von Sławomir Gawlas, von Grischa Vercamer zu Polen, von Martin Wihoda und von Marie Bláhová jeweils zu Böhmen sowie von László Veszprémy und von Dániel Bagi jeweils zu Ungarn relevant.
Gawlas beschäftigt sich mit dem Problem der Fürstenmacht im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts zur Zeit des Vincentius Kadłubek (Magister Vincentius) von Krakau und seiner Chronica Polonorum, in der er ein neues Herrschaftsverständnis widergespiegelt sieht (307). Vercamer fokussiert stärker auf das Herrscherideal von Vincentius, um dann - ausgehend vom Macht- und Herrschaftsbegriff des Soziologen Michael Mann - anhand von Leitmotiven des Herrschers als Verwalter, Repräsentant von Herrschaft, militärischer Führer und Politiker auf die Herrschaftspraxis einzugehen und Vorstellungen guter und schlechter Herrschaftsausübungen herauszuarbeiten. Wihoda widmet sich dann, ausgehend von den Streitigkeiten um das erstrebte Königtum Herzog Vladislavs II., der Chronica Boemorum des Cosmas von Prag und den Adelsversammlungen sowie den Macht- und Herrschaftsstrukturen im Herzogtum Böhmen. Bláhová stellt ebenfalls die Chronica Boemorum in den Fokus ihres Beitrags und untersucht die Herrschaftspraktiken des böhmischen Herrschers zur Sicherung seiner Machtstellung wie zum Beispiel Exilierung und zentrale Herrschaftsausübung durch Gesetzgebung. Sie orientiert sich stärker an den von Vercamer genannten Leitmotiven. Veszprémy beschäftigt sich mit den Gesta Hungarorum, verfasst von einem unbekannten Notar König Bélas III., sowie der Chronik des Simon von Kéza. Für die Gesta Hungarorum betont Veszprémy die Umwälzungen der ungarischen Gesellschaft, bei Meister Simon stehen für ihn hingegen die legitimierende Funktion des Rechts und die Behauptung einer hunnisch-ungarischen Identität im Vordergrund (399). Bagi untersucht in seinem Beitrag Heiligenviten über die ungarischen Könige Stephan und Ladislaus sowie über Stephans Sohn Emmerich, wobei Stilisierung und Schematisierung der Herrscherdarstellungen hervorstechen (417).
Insgesamt sind Vercamers Ansatz sowie die Frage nach Macht und Herrschaft als gewinnbringend anzusehen, wobei aber der systematische Zugriff nicht bei allen Autorinnen und Autoren gleichermaßen gelungen scheint. Es werden verschiedene Analysemodelle nebeneinander verwendet, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse einschränkt. So stehen manche Beiträge isoliert zwischen anderen und lassen den Leser hinsichtlich der Einordnung der Ergebnisse ratlos zurück. Die angesprochenen Regionen sind wohl doch zu unterschiedlich, die untersuchten Chroniken und ihre Verfasser mit vielen Einzelfragen belastet, sodass der zusammenfassende und systematisierende Querschnitt letztlich fehlt. Ein solcher wäre wohl auch in diesem Rahmen kaum zu leisten gewesen und bleibt ein Desiderat der Forschung.
Marcus Wüst