Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933-1945, München: C.H.Beck 2013, 624 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-64545-7, EUR 29,95
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Familiengeführte Unternehmen tun sich noch schwerer als andere, ihre NS-Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen, waren doch die damaligen Unternehmenslenker die Großväter oder gar Väter der heutigen Eigentümer. Auch die Familie Oetker hat sich einer Aufklärung ihrer Rolle im "Dritten Reich" beharrlich entzogen, obwohl es an belastenden Indizien nicht fehlte, und sich daran ein jahrzehntelanger Konflikt um die Benennung der Bielefelder Kunsthalle nach Richard Kaselowsky, dem Leiter des Konzerns in den Jahren 1920 bis 1944, entfachte. Es bedurfte eines Generationenwechsels, bis sich die Oetkers wie zuvor schon die Flicks und die Quandts ihrer Verantwortung stellten. Nachdem Kaselowskys Stiefsohn und Nachfolger Rudolf-August Oetker gestorben war, beauftragten dessen Erben den heutigen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Andreas Wirsching gemeinsam mit seinen Schülern Jürgen Finger und Sven Keller, die Geschichte der Familie und des Unternehmens im Nationalsozialismus zu untersuchen.
Die von der Forschergruppe verfasste Studie wurde bei ihrem Erscheinen geradezu ein Medienereignis. Das war in erster Linie dem hohen Bekanntheitsgrad der Marke "Dr. Oetker" geschuldet, doch trug dazu wohl auch die Eindeutigkeit der Befunde bei. Finger, Keller und Wirsching müssen kaum auf Grautöne zurückgreifen, um das Verhältnis dieser Unternehmerfamilie zum Nationalsozialismus zu beschreiben. Sie stellen fest, "dass im Hause Kaselowsky/Oetker eine deutliche Affinität zum NS bestand" (354). Kaselowsky trat der NSDAP nicht allein aus geschäftlichen Erwägungen bei, sondern auch aus Überzeugung, und hat der Partei offenbar schon vor seinem Eintritt zum 1. Mai 1933 nahegestanden. Die Firma Dr. August Oetker war nicht nur einer der ersten nationalsozialistischen Musterbetriebe, ihr Chef war auch so etwas wie ein nationalsozialistischer Musterunternehmer. Kaselowsky, ein "glühender Verehrer" (208) Hitlers, beteiligte sich an den "Arisierungen", gehörte dem "Freundeskreis Reichsführer SS" an und erklärte den "Nationalsozialisten des Herzens" zu seinem Leitbild.
Einen Industriellen, der sich derart vorbehaltlos zum Nationalsozialismus bekannte, wird man in den zahlreichen neueren Untersuchungen über die Unternehmen im "Dritten Reich" selten finden. Dass unter den deutschen Großindustriellen nur wenige "Nationalsozialisten des Herzens" vertreten waren, ist längst unstrittig. Darüber wurde leicht übersehen, dass es Industrielle wie Kaselowsky gab, zumal in den zahlreichen Unternehmen von der Größenordnung der Firma Oetker, die damals weniger als 2.000 Mitarbeiter hatte. Finger, Keller und Wirsching zeigen, dass sich die Rolle der Unternehmer im "Dritten Reich" nicht auf betriebswirtschaftliche Rationalität und die Nutzung von Spielräumen in einer gelenkten Marktwirtschaft reduzieren lässt. Andererseits war selbst ein Unternehmer wie Kaselowsky keine Marionette der Politik. Er behielt das ökonomische Eigeninteresse der Firma stets im Blick, und auch seiner politischen Haltung lagen eigene Vorstellungen zugrunde. Die Klammer der Oetker-Geschichte im "Dritten Reich" sehen die Verfasser daher in der "Selbstmobilisierung eines Familienunternehmens" (407).
Dass sich Kaselowsky Anfang der 1930er Jahre vom Rechtsliberalen zum Anhänger Hitlers wandelte, führen Finger, Keller und Wirsching auf Wertvorstellungen und Leitbilder dieses Unternehmers zurück. Das Programm der Nationalsozialisten deckte sich in vielem mit dem ausgeprägten Sozialpaternalismus, Nationalismus und "Antimarxismus" des Oetker-Chefs. Unter den deutschen Unternehmern war eine derartige Weltanschauung freilich keine Besonderheit, weshalb sie kaum hinreichend erklären kann, warum sich Kaselowsky früher und distanzloser der NSDAP zuwandte als die meisten Repräsentanten der deutschen Industrie.
Über den Fall Kaselowsky hinaus stützen die Verfasser ihren Affinitäts-Befund auf die bislang kaum bekannte Rolle Rudolf-August Oetkers im "Dritten Reich". Der Firmenerbe, dessen Name sich mit dem steilen Aufstieg des Konzerns in der Nachkriegszeit verbindet, trat 1939 in die NSDAP ein, meldete sich zwei Jahre später freiwillig zur Waffen-SS und wurde in der SS-Führerschule Dachau ausgebildet. Nach dem Krieg konnte sich Rudolf-August Oetker "entlasten", indem er die alleinige Verantwortung seinem 1944 bei einem Luftangriff ums Leben gekommenen Stiefvater Kaselowsky zuschob, was ihn nicht davon abhielt, die Verbindungen zu den alten Netzwerken zu pflegen.
Stärker als andere Untersuchungen über Unternehmen im Nationalsozialismus ist diese Studie biografisch angelegt, was sich aus der Quellenlage und dem spezifischen Profil eines Familienunternehmens ergibt. Doch gehen Finger, Keller und Wirsching auch ausführlich auf die Geschichte der Oetker-Gruppe und der noch wenig erforschten Nährmittelindustrie in der NS-Zeit ein. So wird deutlich, dass Kaselowsky einen recht erfolgreichen und weitsichtigen Ausbau der Unternehmensgruppe betrieb. Mit dem Einstieg bei der Reederei Hamburg-Süd und bei der "arisierten" Malzbierbrauerei Groterjan fasste Oetker auf den Geschäftsfeldern Fuß, die heute neben dem Bereich Nahrungsmittel die umsatzstärksten Säulen des Konzerns sind. Im Unterschied zu den meisten deutschen Konsumgüterproduzenten konnte die Firma Oetker auch noch nach Kriegsbeginn Umsatzsteigerungen erzielen. Dabei entfiel nur ein relativ geringer Anteil des Umsatzes auf Lieferungen an die Wehrmacht. In erster Linie profitierte das Bielefelder Unternehmen davon, dass durch sein wichtigstes Produkt, das Backpulver, Fett und Eier eingespart werden konnten. Bei Nahrungsfetten und Eiweiß bestanden während der NS-Zeit die größten Lücken in der Lebensmittelversorgung, da der Bedarf bei weitem nicht durch inländische Erzeugnisse gedeckt werden konnte.
Auf den ersten Blick überrascht auch der Befund, dass bei Oetker - anders als bei den Tochtergesellschaften - nur wenige Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Finger, Keller und Wirsching erklären dies durch ideologische Vorbehalte, Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeiter in der Nährmittelindustrie einzusetzen, aber auch durch die spezifische Zusammensetzung der Stammbelegschaft, die überwiegend aus jungen Frauen bestand. Im Übrigen erfährt der Leser wenig über die Mitarbeiter des Unternehmens. Lediglich für die leitenden Mitarbeiter wird deutlich, dass die politische Einstellung der Unternehmerfamilie stark auf sie abgefärbt hat. Von 23 Prokuristen traten nur sieben nicht in die NSDAP ein. Ob es eine vergleichbare Nazifizierung der Belegschaft und eine politische Durchdringung der Unternehmenskultur gegeben hat, bleibt offen, was vermutlich der schwierigen Quellenlage für das Bielefelder Stammwerk geschuldet ist. Dies schmälert aber nicht den beeindruckenden Ertrag der auch gut geschriebenen Studie für die zeit- und unternehmenshistorische Forschung.
Johannes Bähr