Manfred Rasch: Kohlechemie im Revier. Zur Geschichte der Ruhrchemie AG 1927-1966, Münster: Aschendorff 2018, XVI + 464 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-402-13343-9, EUR 28,90
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Am Ende des montanindustriellen Zeitalters in Deutschland wurden nicht nur zahlreiche Bergwerke geschlossen und Hochöfen stillgelegt, mit der Umwandlung der Ruhrchemie AG in ein Werk des Chemiekonzerns Hoechst 1988 ging auch die Geschichte einer von Montanunternehmen gemeinsam gegründeten Tochtergesellschaft zu Ende, die in die Chemieproduktion vorgestoßen war. Gleichwohl lässt Manfred Rasch die Geschichte der Ruhrchemie schon 1966 enden, als das Unternehmen aufgrund des Siegeszugs der Petrochemie zum letzten Mal Koksgas zur Erzeugung von Wasserstoff einsetzte. Er begründet dies damit, dass ihm für die 1970er und 1980er Jahre im Gegensatz zu den Jahrzehnten zuvor der Zugang zur Gegenüberlieferung gefehlt habe. Dies ist einerseits verständlich, denn schließlich fragt Rasch nach den unternehmenspolitischen Interessen des Ruhrbergbaus, der die Ruhrchemie 1927 zur Verwertung seiner kohlechemischen Erzeugnisse aus der Taufe hob, andererseits verwundert diese Entscheidung angesichts der boomenden Zahl historischer Arbeiten zu den 1970er und 1980er Jahren.
Ohne Zweifel gehört Rasch in Deutschland zu den Kennern der Materie, der schon zu zahlreichen Aspekten der Kohleforschung publiziert hat. Das Buch basiert denn auch zu großen Teilen auf einer Anfang der 1990er Jahre fertiggestellten Studie. Nach einem technikhistorischen Abriss zur Kohleveredelung bilden die Entwicklung der deutschen Stickstofferzeugung sowie die Gründung der Schwestergesellschaft Ruhrgas (1926), die zur Verwendung von Koks- als Ferngas errichtet wurde, den inhaltlichen Startpunkt. Die Geschichte der Ruhrgas AG, die jüngst von Dietmar Bleidick facettenreich bis zum Jahr 2013 dargestellt wurde, bietet für die Entwicklung der Ruhrchemie eine interessante Vergleichsfolie. Auch für die Ruhrgas AG ging in den 1960er Jahren die traditionelle Erzeugungsbasis infolge der Montan- und Kohlekrise verloren.
Vor allem aber war die Gründung der Ruhrchemie unmittelbar mit der Ruhrgas bzw. ihrer Vorgängergesellschaft (AG für Kohleverwertung) verbunden. Während einige Industrielle den Gasvertrieb und die Ausnutzung kohlechemischer Prozesse in einer Gemeinschaftsgesellschaft bündeln wollten, zogen es andere vor, der AG für Kohleverwertung ausschließlich ihr überschüssiges Koksgas zu verkaufen. Daraufhin gründete eine an der synthetischen Stickstofferzeugung interessierte Gruppe von Ruhrindustriellen 1927 die Kohlechemie AG. Der Ruhrbergbau wollte hierüber aber nicht nur ein Nebenprodukt gewinnbringend weiterverarbeiten, vielmehr sollten auch die Expansionspläne der IG Farben im Stickstoff-Syndikat eingedämmt werden. In dieser Hinsicht war die Kohlechemie AG - seit 1928 Ruhrchemie - auch als Reaktion auf die Gründung des übermächtigen Chemiegiganten zu verstehen.
Trotz technischer Anlaufschwierigkeiten war das erste Betriebsjahr durchaus zufriedenstellend. Doch 1930 verschlechterte sich die Absatzlage ungewöhnlich stark. Wie viele Unternehmen traf die Weltwirtschaftskrise die Ruhrchemie mit voller Wucht. Sie suchte daher nach neuartigen Produkten, gründete 1930 zur Ethylengewinnung die Chemische Fabrik Holten GmbH und stieß über ein eigenes Kraftwerk in die thermische Kohleveredelung vor. Ab 1932 verbesserten sich die wirtschaftlichen Aussichten. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verschlechterte sich ihre finanzielle Situation jedoch erneut, denn das NS-Regime setzte zur Entschuldung der Not leidenden Landwirtschaft eine Herabsetzung der Stickstoffdüngerpreise durch. Mit der Erzeugung flüssiger Kohlenwasserstoffe fand die Ruhrchemie ein neues Produktionsstandbein. Stärker als die NS-Autarkiepolitik war Rasch zufolge daher die NS-Landwirtschaftspolitik der Beweggrund für den Bau eines Treibstoffwerks. Nachdem Lizenzverhandlungen mit der IG Farben gescheitert waren, wandte sich die Ruhrchemie dem bisher noch nicht großtechnisch erprobten Fischer-Tropsch-Verfahren zu. 1934 erwarb sie dessen Generallizenz. Zur Verwendung der Lizenz gründeten die Ruhrchemie-Aktionäre ein eigenständiges Schwesterunternehmen namens Ruhrbenzin AG. Während die Gestehungskosten für Fischer-Tropsch-Benzin zunächst deutlich über dem mit dem Reichswirtschaftsministerium ausgehandelten Garantiepreis lagen, brachte vor allem die Lizenzvergabe an deutsche, italienische, französische und japanische Unternehmen erhebliche Gewinne ein. Gleichwohl zeigten sich die meisten Ruhrunternehmen gegenüber der bisher wenig erprobten Technologie zurückhaltend. Rasch zufolge entschieden sich Krupp, Hoesch und Essener Steinkohle erst mit der Verkündigung des Vierjahresplans 1936 für den Bau von Fischer-Tropsch-Werken, da sie auf diese Weise einem Zwang zum Bau von Treibstofffabriken entgehen wollten. Insgesamt blieb die Benzinerzeugung mittels Fischer-Tropsch-Synthese weit hinter den Erwartungen zurück, da das Verfahren noch nicht ausgereift und eher auf die Erzeugung von Chemierohstoffen als auf die Benzinproduktion ausgerichtet war. Nichtsdestotrotz entwickelte sich die Ruhrchemie auf diese Weise zu einem inhärenten Teil der NS-Autarkie- und Kriegswirtschaft. Gerade diese politische Seite der Unternehmensgeschichte hätte Rasch durchaus pointierter behandeln können. Genauso wie die Eisen- und Stahlunternehmen der Ruhr ihre Werke in den Dienst der NS-Aufrüstung stellten, galt dies für die Ruhrchemie. Sie baute ihre Kapazitäten während des Krieges mit staatlichen Geldern und unter Einsatz von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus.
Im Anschluss folgen drei Kapitel über die Jahrzehnte nach 1945, die sich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie den 1950er und 1960er Jahren beschäftigen. Obschon die Ruhrchemie Demontage und Entnazifizierung recht unbeschadet überstand, gestaltete sich die Betriebsaufnahme problematisch. Es mangelte an Kapital, und die Ruhrchemie-Aktionäre verfügten infolge der NS-Wirtschaftspolitik inzwischen vielfach selbst über kohlechemische Anlagen. Die Ruhrchemie konzentrierte sich daher auf die Düngemittelproduktion und die Mineralölverarbeitung, doch konnte sie auf letzterem Feld nicht an die Größenordnung und Rentabilität der umgebauten Hydrierwerke in Gelsenkirchen oder Wesseling anschließen.
Der entscheidende Wandel auf Aktionärsebene fand 1958 im Gefolge der Bergbaukrise und divergierender Einzelinteressen der Montanunternehmen statt, als sich neben Mannesmann und der Haniel-Gruppe die Farbwerke Hoechst paritätisch an der Ruhrchemie beteiligten. Damit erhielt das Unternehmen einen Großaktionär, gegen den die Gründung des Unternehmens ursprünglich gerichtet war. Tatsächlich ging es in den 1960er Jahren mit der Ruhrchemie aufwärts, allerdings zeigte sich nun, dass ihre Rohstoffbasis im Vergleich zu Vorprodukten auf petrochemischer Basis kaum noch konkurrenzfähig war. Die Ethylen- und Wasserstoffgewinnung wurde daher 1966 eingestellt. Während Hoechst die Unternehmenspolitik der Ruhrchemie immer stärker bestimmte, nahm der Einfluss der verbliebenen Eisen- und Stahlunternehmen ab. Thyssen und Mannesmann veräußerten ihre Beteiligungen schließlich 1982 an den Chemiekonzern.
Zweifellos ist Rasch eine solide Darstellung zur Ruhrchemie von den 1920er bis in die 1960er Jahre gelungen Er leuchtet die in der Ruhrchemie aufeinandertreffenden Interessen anschaulich aus und lässt kaum ein Detail aus. Es bleibt zu hoffen, dass diese Geschichte auch für die 1970er und 1980er Jahre, in denen der Kohle infolge der Ölpreiskrisen nochmals kurzzeitig eine goldene Zukunft zugeschrieben wurde, weitergeführt und gleichzeitig an die aktuellen Fragen der Zeitgeschichte rückgebunden wird.
Christian Marx