Jeffrey A. Larsen / Kerry M. Kartchner (eds.): On Limited Nuclear War in the 21st Century. Foreword by Thomas C. Schelling (= Stanford Security Studies), Stanford, CA: Stanford University Press 2014, XXV + 282 S., ISBN 978-0-8047-9089-5, EUR 26,50
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Man darf beruhigt sein: Das Undenkbare wird weitergedacht - jedenfalls in dem von Jeffrey A. Larsen (NATO Defense College, Rom) und Kerry M. Kartchner (Missouri State University, Fairfax VA) herausgegebenen Sammelband zur Geschichte und Zukunft des begrenzten Nuklearkrieges. Bei letzterem handelt es sich, so die Arbeitsdefinition, um einen Konflikt, in dem wenige Nuklearwaffen geographisch begrenzt und aufgrund eng definierter Zielsetzungen eingesetzt werden (5). Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass es überfällig ist, sich mit diesem Phänomen analytisch auseinanderzusetzen. Intellektuelles Desinteresse oder moralinsaurer Eskapismus helfen ebenso wenig weiter wie Tabuisierung, wie George H. Quester klärt (173): ''In the universities of this world, an unthinking rejection of any option is to be avoided, as a crippling obstacle to a full-scale analysis.''
Der Gegenstand, die Geschichte und Zukunft des begrenzten Nuklearkrieges, ist nicht nur brisant, sondern relevant für alle, die sich seriös mit Problemen internationaler Sicherheit beschäftigen. Die Geschichte des Atomzeitalters bildet den Referenzpunkt des Bandes, auch wenn nur vier von zwölf Beiträgen historische Überblicke über das konzeptionelle Denken zum Thema begrenzter Nuklearkrieg und über entsprechende Versuche zur politischen Implementierung geben.
Prononciert fällt die Einschätzung der Autoren aus, dass in der Welt des 21. Jahrhunderts, in einer Welt mit multipolarer und nicht mehr bipolarer nuklearer Weltordnung, die systemische Stabilität gesicherter sei als lokale oder regionale Stabilität. Die Bedrohung durch einen allgemeinen, thermonuklearen Krieg als strukturell akutes Szenario während des Ost-West-Konflikts sei in den Hintergrund getreten. Sie bleibe residual vorhanden. Demgegenüber seien Szenarien des begrenzten Nuklearkrieges mit unbekannter Eskalationsdynamik als wahrscheinlicher anzusehen (145). Washington sei hierfür jedoch nicht gewappnet - weder im Denken, noch bezüglich Streitkräften und Strategie (XXV, 212).
Die nukleare Weltordnung sei im Fluss. Komme es zu weiterer Proliferation von Kernwaffen, steige die Wahrscheinlichkeit des Nuklearwaffeneinsatzes. Staaten wie Russland und Pakistan agierten längst auf der Basis von Strategien, denen das Prinzip der asymmetrischen Eskalation und Doktrinen zum selektiven Einsatz nuklearer Waffen zugrunde lägen (122). Durch Kontrolldefizite in Atommächten wie Pakistan könnten Nuklearwaffen an Terroristen gelangen. Auch die Waffenentwicklung habe das Potential, dem begrenzten Nuklearkrieg Vorschub zu leisten und das ''nukleare Tabu'' zu unterminieren, wenn letzteres überhaupt mehr darstellt als ein Intellektuellenkonstrukt; die Beispiele sind zahlreich: nukleare Präzisionswaffen mit begrenzter Schadenswirkung aufgrund niedriger Detonationswerte; Luftzündung von Kernwaffen zur Bekämpfung bodengebundener Infrastruktur mittels elektromagnetischem Impuls; nukleare Raketenabwehr und nukleare Seekriegsführung.
Der Band will den Sinn dafür schärfen, dass die Welt im multipolaren ''Second Nuclear Age'' [1] auf Szenarien begrenzter Nuklearkriegführung zusteuern kann. Die Beiträge fallen umsichtig und mitunter höchst differenziert aus. Sie fügen sich zu einem Plädoyer des Bandes zusammen: Auch zukünftig seien Optionen zum limitierten, selektiven Nukleareinsatz, d.h. Einsatzoptionen weit unterhalb des Niveaus des allgemeinen, thermonuklearen Krieges essentiell, um unter den Bedingungen gegenseitiger nuklearer Verwundbarkeit die Glaubwürdigkeit der Abschreckung zu erhalten und um - im Fall der USA - geopolitische Zonen unter US-Schutz (NATO, Japan, Südkorea etc.) gegen Druck und Aggressionen zu schützen. Über glaubwürdige, limitierte Einsatzoptionen zu verfügen, stärke die Abschreckung und trage zur praktischen Nichtimplementierung dieser Optionen bei (15/265). Diese Sicht war und ist umstritten. Kritiker wandten und wenden etwa ein, dass die technische Fähigkeit zur quasi-chirurgischen, selektiven Nuklearkriegsführung die Schwelle zum Nuklearwaffeneinsatz verringere: ''by making war less horrific one makes it more likely to occur'' (7); hinzu komme das Problem des möglichen Eskalationskontrollverlusts, so dass auch der limitierte Einsatz den Höllenschlund zum allgemeinen Nuklearkrieg aufreißen könne. Diese hochpolitische Kontroverse stellt nur einen Aspekt einer grundlegenderen Problematik dar, nämlich des komplizierten Konzepts der Eskalation, das in einem exzellenten Beitrag von Kartchner und Michael S. Gerson skizziert wird.
Für die historische Forschung besonders aufschlussreich ist das Bild, das der Band von der Genese der Doktrin zum begrenzten Nuklearkrieg in den USA seit den ausgehenden 1950er Jahren zeichnet. Die entscheidende Entwicklung, so wird überzeugend argumentiert, habe darin gelegen, dass sämtliche US-Administrationen seit John F. Kennedy unter den Bedingungen von mutual assured destruction (MAD) und unter Aufwendung von Aber-Milliarden US-Dollar versucht hätten, im US-Streitkräftedispositiv und in der US-Strategie über Limited Nuclear Options (LNOs) zu verfügen (68).
Wie mehrere Beiträge punktuell betonen, habe bei diesem Streben das Glaubwürdigkeitsmanagement bezüglich des US-Nuklearschirms etwa zugunsten NATO-Europas eine Rolle gespielt, die in dem Band zu gering gewichtet wird (56/68/184ff.). Der Band weist somit implizit auf das Forschungsdesiderat hin, den Nexus zwischen LNOs und der Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschirms systematisch zu erforschen.
Vor allem das Denken von Harvard-Ökonom Thomas C. Schelling hatte bahnbrechenden Einfluss, etwa im Blick auf die Herausbildung der europabezogenen flexible response-Strategie (153-156). Die Androhung nuklearer Eskalation durch defensiven und selektiven Ersteinsatz nuklearer Waffen, so Schelling, beute das Potential der Ungewissheit, des nicht ausschließbaren Eskalationskontrollverlusts im begrenzten Nuklearkrieg aus, um erstens die Abschreckung zu stärken und um zweitens im Krieg auf eine Kriegsbeendigung hinzuwirken, weil mittels Eskalation das gemeinsame Risiko der Kontrahenten steige. Wie im Band zu Recht festgestellt wird, wird erst die historische Forschung Antworten geben können, ob es etwa im Falle der USA kohärente Pläne zur begrenzten Nuklearkriegführung gegeben hat (66). Wichtige, skeptisch stimmende Pionierarbeiten liegen vor. [2]
Der Gegenstand des stark auf die USA bezogenen Bandes bringt es mit sich, dass die Beiträge immer wieder am Rand der Ungewissheit wie des Spekulativen operieren. Die empirische Grundlage relevanten Wissens ist aufgrund von Geheimschutzbestimmungen inhärent begrenzt. Und es fehlt jede Erfahrung mit begrenzten Nuklearkriegen nach Hiroshima und Nagasaki. Der Band sensibilisiert für den hohen Komplexitätsgrad des Gegenstandes. Er schärft den terminologisch-konzeptionellen Zugang zur Sache. Und er wirft zahlreiche, gewichtige Folgefragen auf. Diese stellen sich insbesondere einer empirischen Geschichtsschreibung, die einerseits an analytischer Tiefenschärfe zulegen sollte, andererseits aber diejenigen empirisch gesicherten Ergebnisse beisteuern kann, auf denen Werke wie das hier besprochene aus dem Bereich security studies / strategic studies aufbauen.
Anmerkungen:
[1] Paul J. Bracken: The Second Nuclear Age. Strategy, Danger, and the New Politics, New York 2012.
[2] Siehe etwa: William Burr: The Nixon Administration, the ''Horror Strategy,'' and the Search for Limited Nuclear Options, 1969-1972: Prelude to the Schlesinger Doctrine, in: Journal of Cold War Studies 7,3 (2005), 34-78.
Andreas Lutsch