Sami Zubaida: Beyond Islam. A New Understanding of the Middle East, London / New York: I.B.Tauris 2011, VIII + 232 S., ISBN 978-1-84885-070-5, GBP 16,99
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Der europäische und US-amerikanische öffentliche Diskurs um die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas wird oftmals vom Islam als zentralem Identitätsmarker und Beschreibungsmerkmal dominiert. Sami Zubaida wehrt sich in seinem neuesten Buch gegen eine solche Blickverengung, bei der Religion nicht als ein Faktor unter vielen, sondern gewissermaßen als prägende Essenz einer ganzen Region wahrgenommen wird. Er fordert dazu auf, den Einfluss von Religion auf Gesellschaft nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen sozialen Beziehungen zu betrachten, um eine diversifizierte Untersuchung historischer Entwicklungen zu ermöglichen. Damit ist der Autor selbst zunächst vor ein Begriffsproblem gestellt: Wie ist dieser "islamische Kulturraum" besser zu bezeichnen? Zubaida entscheidet sich für den Ausdruck des "Middle East", zu Deutsch: Nahen Ostens, der bei ihm auch Nordafrika einschließt. Dabei nutzt er im Laufe des Buches vor allem Fallbeispiele aus dem Iran, den er aber stets als Sonderfall präsentiert, aus Ägypten und der heutigen Türkei.
Sechs Kapitel sollen exemplarisch Einblick in nahöstliche Gesellschaften und Geschichte (Kapitel 1, Kapitel 5), politische Ideen und Entwicklungen (Kapitel 2, Kapitel 4, Kapitel 6) und Fragen der Identitätsbildung (Kapitel 3) geben. Eine zusammenfassende Darstellung des Kernarguments des Autors gibt aber allein die umfangreiche Einleitung, die die aus bereits veröffentlichten Aufsätzen bestehenden Kapitel in Bezug zueinander setzt. Darin heißt es, dass mit dem sogenannten islamischen Differenzdiskurs, dem "islamic discourse of difference" (19), der sich zwischen islamischer Tugend und westlicher Verderbtheit erstrecke und in dem Phänomene der Moderne oft als "christlich" wahrgenommen würden, ein vereinheitlichender religiöser Essentialismus sowohl auf "westlicher", als auch auf "nahöstlicher" Seite existiere und gefördert werde. Diese beidseitige Wahrnehmung von Religion als eine Art unveränderliche Essenz von Gesellschaft sowie die Fokussierung darauf kritisiert Zubaida auch im Zuge der Perspektive multipler Modernitäten, da diese stets als Alternative zu einer wiederum unifizierten westlichen Moderne gedacht würden. Die Frage der Moderne sei dabei ein Problem von Konflikten zwischen unterschiedlichen sozialen Kräften, die teilweise auch eine Instrumentalisierung von Religion und Tradition mit sich bringe. So könne der Eindruck eines Zusammenstoßes von Religionen entstehen, unterschiedliche Transformationsmuster ließen sich aber auch innerhalb der Kategorien "Westen" bzw. "islamische Welt" feststellen.
Beispiel für eine solche Fokussierung auf eine religiöse Essenz ist für den Autor Ernest Gellners Werk "Sociology of Islam", in dem ein uniformes und dem Westen wesensfremdes Modell einer islamischen Gesellschaft gezeichnet wird. Zwar werde "dem Islam" ein alternativer Weg zur Moderne zugestanden, er werde damit aber gleichzeitig fremd gehalten und besonders im Hinblick auf die Moderne als Entwicklungsideologie begriffen. Dabei habe Religion laut Zubaida beim Prozess des Übergangs in die Moderne nicht so sehr alternative Gesellschaftsmodelle, sondern vor allem eine spezifische Terminologie mit sich gebracht, die sich von verschiedenen Seiten nutzen lasse.
Zubaidas Buch richtet sich gegen die Unifizierung und einseitige Betrachtung des Nahen Ostens vom Standpunkt des als einheitlich wahrgenommenen Islam aus, indem er soziale Aspekte in Zusammenhang mit kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren stellt. Auch wenn der Autor westliche Wissenschaftler kritisiert, die Andersartigkeit und Uniformität muslimischer Geschichte und Zivilisation zu etablieren und mit Beschreibungen einer "bemerkenswerten utopischen Gesellschaft" (15) einen historischen Mythos zu bemühen, den auch islamistische Kräfte gerne für ihre Zwecke nutzten, so kann doch angenommen werden, dass der geforderte Weitblick den Fachlesern des Buches bereits ein Anliegen ist - für interessierte Einsteiger finden sich in Zubaidas Werk aber durchaus noch interessante Fakten und gedankliche Ansatzpunkte. Das Buch jedoch wie auf dem Klappentext als "essential reading" für Generationen von Studierenden anzupreisen, ist vielleicht etwas übertrieben. Dabei kann die Darstellung brandneuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auch kein Ziel des Buches sein, abgesehen davon, dass die genannten Beispiele selten tiefergehend sind. Die sich an politischen und sozialen Phänomenen orientierenden Titel der einzelnen Kapitel erwecken einen anderen Eindruck von den besprochenen Inhalten als die Aufsätze selbst. Im Text finden sich größtenteils Beispiele, die vor allem Einblick in Lebensrealitäten zu geben scheinen, wobei nicht Fragen von Politik oder Wirtschaft, sondern von Alkoholkonsum und Sexualität besprochen werden. So etwa im vierten Kapitel, in dem Zubaida die Entwicklungsgeschichte politischer Ideen vor dem Hintergrund kosmopolitischer Einflüsse auf die Gesellschaft vielfältig darstellt. Vor allem zeichnet er dabei aber das Bild einer bunten und offenen Gesellschaft, in der Cafés, Freimaurerlogen und eine erstaunlich lebendige Trinkkultur eine bedeutsame Rolle zu spielen scheinen.
Erwarten kann der Leser keine tiefgründigen Darstellungen nahöstlicher Geschichte und Lebensrealitäten, wohl aber durchaus interessante punktuelle Einblicke in vormoderne und moderne Gesellschaften, die durch das Aufzeigen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und Realitäten über den Islam hinaus ("Beyond Islam") gehen. Eine abschließende Zusammenfassung wäre der vom Autor angestrebten Erkenntnisleistung des Lesers sicherlich noch zuträglich gewesen, zumal die Auswahl der Beiträge einen in sich kohärenten Aufbau und eine stringente Entwicklung eines Arguments vermissen lässt, was man bei dieser Form der Veröffentlichung sicherlich auch nur bedingt erwarten kann.
Verena Ricken