Anne Curry: Agincourt (= Great Battles), Oxford: Oxford University Press 2015, XVI + 256 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-968101-3, GBP 18,99
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Dieser Band stand zu erwarten: Bereits 2000 und 2005 wurde das Thema von der Autorin monographisch behandelt, die als gegenwärtig wohl beste englische Kennerin des Hundertjährigen Kriegs zu gelten hat (ihre Darstellung des Kriegs erschien auch auf Deutsch 2015 in zweiter Auflage). Anlässlich der 600 Jahrfeier der Schlacht von Agincourt (frz. Azincourt) lag es wohl nahe, darauf nochmals zu rekurrieren, indes mit einem neuen, dem Profil der Reihe 'Great Battles' entsprechenden Akzent: Geboten wird, aus vornehmlich englischer Sicht, eine konzise, auf der Basis des heutigen - nicht zuletzt von Curry mit bestimmten - Forschungsstands beruhende, flüssig zu lesende Darstellung der Schlacht und deren historischen Kontexts; allein der Schwerpunkt liegt nunmehr auf Nachleben und Rezeption jenes Ereignisses, das bis zum heutigen Tag in Großbritannien lebendig ist und, mehr noch, britische Identität mit konstituierte.
Dabei kam der Schlacht selbst keine kriegsentscheidende Wirkung zu, denn Frankreich war - wohlgemerkt nach Meinung der Verfasserin - durch die Niederlage keineswegs im Mark getroffen: König und Dauphin befanden sich nicht in Azincourt, die Regierenden sahen sich nicht einmal zu Verhandlungen mit dem Feind gezwungen, und die Verluste hielten sich, entgegen weit verbreiteter Ansicht, in Grenzen, wie auch die Zahl der Schlachtteilnehmer auf englischer Seite mit etwas über 8000 und auf französischer Seite mit ca. 12.000 Mann wesentlich niedriger anzusetzen sein dürfte als es eine bereits im 15. Jahrhundert aufkommende englische Tradition wissen wollte, die teilweise von über 100.000 Franzosen ausging und die Zahl der eigenen Kämpfer minimierte, um den Triumph in noch strahlenderem Licht erscheinen zu lassen. So heißt es denn auch in der berühmten Ansprache, die Shakespeare in seinem Drama 'The Life of Henry the Fifth' den König am 25. Oktober, dem St. Crispins-Tag, vor der Schlacht an seine Soldaten richten lässt: "We few, we happy few, we band of brothers". Und ebendas trifft den Kern dessen, wofür Agincourt seitdem auf der Insel steht: Zu Zeiten der Gefahr, ja der scheinbaren Ausweglosigkeit, verleihen Einigkeit und Geschlossenheit, Einstehen für die gemeinsame Sache eine siegbringende Kraft, die auch den gemeinen Mann mit einschließt, waren doch weniger Ritter als Bogenschützen schlachtentscheidend; ein Umstand, der wiederum den Stolz auf die eigenen demokratischen Traditionen vor allem im 19. Jahrhundert bestärkte.
Mochte Agincourt auch manches Mal fast in Vergessenheit geraten sein, bei jeder neuerlich drohenden oder tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem französischen Feind stand es sogleich wieder auf der nationalen Agenda - und dies sollte ebenso für den Kampf gegen Hitlerdeutschland auf französischem Boden gelten, wie Churchills Reden und der 1944 nach dem D-Day in die Kinos gelangte Film mit Lawrence Olivier als Regisseur und Hauptdarsteller belegen. Agincourt 'an sich' kreierte wohlgemerkt nicht besagte britische Identität, sie wurde erst über Shakespeare und den auf ihn rekurrierenden Olivier geschaffen: "For many Shakespeare's play is Agincourt, and Lawrence Olivier's film of the play ... is the quintessential portrayal of the battle and the king" - "Without Shakespeare's Henry V it is impossible to believe that Agincourt would be so well known and such a quintessential element of English-speaking culture" (78, 114). Doch auch der so gänzlich andere Henry V-Film Kenneth Branaghs (1989) findet Erwähnung, der den Monarchen als skrupellosen Machtmenschen zeichnet und das Elend des Kriegs im Inferno von Blut, Schlamm und Regen aufscheinen lässt; die Verfasserin spannt den Bogen gar bis zur Popgruppe 'Agincourt', die 1994 ein Album selben Namens produzierte, ja bis zu nach der Schlacht benannten Hotels und Strandappartements in Australien - bereits in den napoleonischen Kriegen war der Brauch aufgekommen, Gebäude, Straßen und Firmen danach zu benennen; später sollten Lokomotiven und Kriegsschiffe Britanniens Agincourt-Stolz in die Welt tragen.
Was Curry an Memorabilia zusammenträgt vom zeitgenössischen 'Agincourt Carol' und von Sousas 1907 komponiertem 'March to Agincourt' zur 50 Jahrfeier der Gründung einer kleinen Stadt dieses Namens in Iowa ('the town that time forgot and geography misplaced') über eine Zeichnung des zwölfjährigen John Lennon bis hin zur Beschwörung von Agincourt im Vorfeld der Fußball-WM 2010 und zu einer 2014 in Lyon aufgeführten Oper mit Steve Jobs und Heinrich V. als königlichen Kämpfern gegen Microsoft und Frankreich, das ist schon imponierend und bisweilen auch skurril. Und ein kurzer Blick ins Internet belegt die ungebrochene Wirkkraft des Mythos gerade im Jubiläumsjahr 2015, in dem etwa ein Poesiewettbewerb und Rollstuhlfechten unter solchem Signum veranstaltet wurden. Ganz zu schweigen von den Aktivitäten am Ort selbst, wo seit Jahren Briten und Franzosen die Schlacht nachstellen (was überdies mit Playmobilfiguren geschieht), aber auch seit 2001 ein 'Centre Historique Médiéval d'Azincourt' u. a. um die wissenschaftliche Seite der Sache bemüht ist, für die sich Historiker wie eben Curry oder Philippe Contamine engagieren, dessen frühere Arbeiten zu Azincourt (1964; 1973; Ndr. 2013) seltsamerweise weder hier noch in dem großen von Anne Curry und Malcolm Mercer herausgegebenen und die Londoner Ausstellung 'The Battle of Agincourt' begleitenden Band selben Titels (2015) erwähnt werden.
Dieser Band bietet im Übrigen eine Fülle von Spezialuntersuchungen, deren Themen die Verfasserin in der vorliegenden Monographie zwar sämtlich anreißt, doch mit Blick auf den beschränkten Umfang nur kurz abhandeln kann. Wobei ungeachtet großen Publikumsinteresses - um 30.000 Besucher, davon fast die Hälfte Briten, zählt Azincourt schon in 'normalen' Jahren - und ungeachtet intensiver und im Jubiläumsjahr weiter gesteigerter Forschungstätigkeit noch manche Frage offen bleibt. So konnte trotz der seit 2002 auf dem angenommenen Areal durchgeführten Ausgrabungen bis heute nicht einmal das Schlachtfeld eindeutig lokalisiert werden. Doch lehrt uns dieses schöne Buch, dem die Autorin 2015 noch eine kleine Biographie Heinrichs V. in der Reihe 'Penguin Monarchs' an die Seite stellte, nicht einmal mehr, dass nationale Meistererzählungen - und dazu gehört Shakespeares 'King Henry V' zweifellos - der Faktizität nicht bedürfen, um ihre eigene mythenstiftende Kraft zu entwickeln?
Heribert Müller