Daniel Münzner: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen: Wallstein 2015, 414 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1773-4, EUR 39,90
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"Ohne Zweifel", so schrieb 1926 treffend die Wiener Arbeiter-Zeitung, sei Kurt Hiller "eine interessante Persönlichkeit". Zwar "eigenwillig, ja verschroben" und "oft ungerecht", jedoch "immer ein geistreicher Denker". [1] Es ist das Verdienst der Dissertation Daniel Münzners, diesen schillernden, bislang wenig beachteten Schriftsteller und Linksintellektuellen umfassend zu würdigen. Wie mittlerweile in der Zeitgeschichte Usus, versteht sich die Arbeit dabei nicht als eine "Biographie in dem Sinne, dass sie die Genese eines individuellen Charakters [...] untersucht". Vielmehr nimmt sie Hiller "als prototypisches Beispiel", anhand dessen übergreifende "strukturelle Faktoren" (12-13) aufgezeigt werden sollen: die allgemeinen "Ausgrenzungserfahrungen" Linksintellektueller zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik sowie der Wandel ihres ursprünglich ablehnenden, nach 1945 dann aber positiven Demokratieverständnisses. Ihre "Staatsskepsis und Demokratiekritik" speisten sich demnach maßgeblich aus "Diskriminierungserfahrungen" (13), vor allem aus der Konfrontation mit "Anti-Intellektualismus, Antisemitismus und Homophobie" (15). "[A]ufgrund ihres ähnlichen kulturellen und sozialen Kapitals", so die - empirisch nicht weiter unterfütterte - These, hätten Linksintellektuelle "gemeinsame Ausgrenzungserfahrungen" (21) gemacht.
Das Hauptaugenmerk der Studie gilt dem Einfluss jener Diskriminierungserfahrungen auf Hillers Denken und Publizistik; "[p]ersonale und situative Einflüsse" (18) werden hingegen nur am Rande thematisiert. Die Anfeindungen, denen der Schriftsteller und Publizist ausgesetzt war, untersucht Münzner in den chronologisch angelegten Hauptkapiteln seiner Arbeit "anhand der klassischen Kategorien der Ungleichheitsforschung (class, race, gender)" (21). Um zu zeigen, wie Hiller auf die gesellschaftlichen "Ausgrenzungsmechanismen" reagierte und wie er sie verarbeitete, wertet Münzner die aus einer eindrucksvollen Zahl von Archiven zusammengetragen Korrespondenzen Hillers sowie dessen Schriften aus - mit Fokus auf die Themen "Demokratie- und die, politische Philosophie, Justiz und Homosexualität" (23). Dass Hiller die hitzig-aggressive politische Kultur der Weimarer Republik als notorischer Polemiker mitprägte und somit "selbst Träger" jener Strukturen war, "unter de[nen] er litt" (18), hebt Münzner hellsichtig hervor. Den Befund der "antidemokratische[n] Grundhaltung" Hillers nach 1918 relativiert der Autor, indem er auch "den engagierten Demokraten Hiller in den Blick" nimmt, insbesondere dessen Engagement für den Pazifismus und die "Gleichstellung sexueller Minderheiten" (28). Damit grenzt sich Münzner zugleich kritisch von Riccardo Bavajs These ab, der linke Antirepublikanismus nach 1918 habe eine "notwendige Prämisse für das Scheitern des Parlamentarismus im Deutschland der Zwischenkriegszeit" [2] dargestellt. Tatsächlich seien, so Münzner, Weimars Linksintellektuelle "immer wieder in entscheidenden Phasen für die Republik" eingetreten (117).
Abgesehen von einem kurzen Abriss in der Einleitung bleiben Kindheit und Jugend Hillers in Münzners Studie vollständig ausgespart, da diese "nur einen geringen Erklärungswert" (14) für seine Fragestellung böten. Die Darstellung setzt stattdessen mit den Studentenjahren ein, in denen Hiller ob seiner Weigerung, sich studentischen Trinkritualen zu unterwerfen, erste Ausgrenzungen als "Intellektueller" erfuhr. Zugleich arbeitet Münzner anschaulich heraus, welchen antisemitischen Ressentiments Hiller als junger expressionistischer Künstler ausgesetzt war, wobei die Frage, wie stark bzw. wie konkret sich diese Erfahrungen auf seine "Selbstkonstruktion" (83) auswirkten, aber offen bleibt.
Ähnlich dünn bleibt in Sachen Antisemitismus die empirische Basis im Kapitel zur Weimarer Republik. Daran ändert auch der interessante Hinweis wenig, dass Hiller aufgrund seiner jüdischen Abstammung in einem Fall auch seitens pazifistischer Kreise mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert wurde (157). Auch bleibt dunkel, inwiefern der Befund, dass Hiller mitunter selbst antisemitische Stereotype aufgriff (161-163), sich mit der These der prägenden Kraft eigener antisemitischer Diskriminierungserfahrungen verträgt. Allerdings betont Münzner, dass Hiller "Fragen sozialer Ungleichheit" und "die Diskriminierung Homosexueller für wichtiger" (165) hielt als den Antisemitismus. Überzeugender wirkt denn auch die Darstellung der identitätsstiftenden Kraft von Hillers Kampf gegen homophobe Diskriminierungen. Plausibel zeigt Münzner, dass Hillers Enttäuschung ob der prekären Situation homosexueller Männer in der Weimarer Gesellschaft auch "eine plausible Erklärung" (171) für dessen demokratiefeindliche Schriften bietet.
Für die Zeit nach 1945 konstatiert Münzner hinsichtlich Hillers Ausgrenzungserfahrungen als Jude keine öffentlichen Diskriminierungen mehr. Stattdessen verweist er auf private, dezidiert nicht feindselige "Zuschreibungen des Jüdischen" seitens persönlicher Freunde, wobei deren Tragweite für Hillers Denken jedoch auch hier offen bleibt. Demgegenüber gelingt Münzner ein überzeugendes Bild von Hiller als politischem Publizisten, der zuletzt seinen Frieden mit der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik schloss und bis ins hohe Alter Sinn in seinem verdienstvollen Kampf für Homosexuellenrechte fand.
Der Gesamteindruck bleibt ambivalent. Zweifel an der von Münzner angenommenen Repräsentativität Hillers für "die" Linksintellektuellen seiner Zeit werden dabei auch von einigen Aussagen Münzners genährt. So konstatiert er, Hillers "Aufgeschlossenheit gegenüber Denkern anderer politischer Strömungen" sei "eher untypisch für die Intellektuellen der Weimarer Republik "(172) gewesen und erklärt das "Lager der Linksintellektuellen" insgesamt für "diffus"; "jede Person" habe ihr "eigenes Programm" (117) vertreten. Auch habe das lebenslange "Engagement für die Homosexuellen", wie das Fazit zu Recht hervorhebt, Hiller "von vielen linken Intellektuellen" (356) seiner Zeit unterschieden. Wie aber verträgt sich all dies mit den Prämissen der Einleitung? Hinzu kommen, wo es nicht um Hiller persönlich geht, vereinzelte inhaltliche Mängel. So erklärt Münzner Ernst von Salomon zum "Rathenau-Mörder" (11) - korrekt wäre Beihilfe zum Mord, die Attentäter waren andere - und behandelt Sebastian Haffners pauschales Verdikt gegen das Verhalten der SPD-Führung von 1918/19 als "Verrat der Revolution" (123) ebenso unkritisch als Tatsache wie die allenfalls spekulative These von Hitlers Homosexualität (331-332). [3] Auch wäre bei den mehrfach zitierten, beleidigenden Auslassungen Hillers gegen Friedrich Ebert zu wünschen gewesen, einmal sachlich auf die großen Verdienste dieses viel geschmähten Staatsmanns zu verweisen. [4]
Doch trüben diese Details das insgesamt positive Bild nicht wesentlich. Münzner hat eine thematisch innovative, sehr gut und spannend geschriebene Arbeit vorgelegt, welcher, auch wenn nicht alle der - allerdings sehr ambitionierten - Ansprüche der Einleitung eingelöst werden, viele Leser zu wünschen sind.
Anmerkungen:
[1] Zitiert nach: Karl Kraus (Hg.): Die Fackel 28, Nr. 743-750 (Dezember 1926), 67.
[2] Vgl. Riccardo Bavaj: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005, 496.
[3] Vgl. u.a. Hans Mommsen: Viel Lärm um nichts. Lothar Machtans These, Adolf Hitler sei homosexuell gewesen, ist wissenschaftlich weder haltbar noch ergiebig, in: DIE ZEIT vom 11.10.2001, Nr. 42.
[4] Vgl. die abschließende Würdigung in Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2007.
Thomas Vordermayer