Rezension über:

Sigrid Weigel (Hg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. Unter Mitarbeit von Tine Kutschbach (= TRAJEKTE), München: Wilhelm Fink 2013, 277 S., zahlr. Farb-, s/w.-Abb., ISBN 978-3-7705-5344-0, EUR 34,00
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Rezension von:
Petra Löffler
Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Petra Löffler: Rezension von: Sigrid Weigel (Hg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. Unter Mitarbeit von Tine Kutschbach, München: Wilhelm Fink 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/25189.html


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Sigrid Weigel (Hg.): Gesichter

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Kaum ein Gegenstand hat in der Medien- und Kulturwissenschaft über Jahrzehnte hinweg eine ähnlich anhaltende Konjunktur erlebt wie das Gesicht. Zahlreiche, zumeist interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte haben dessen Bedeutungswandel als "Humanum ersten Ranges" (Thomas Macho) untersucht. Das Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) hat unter seiner Leiterin Sigrid Weigel durch umfangreiche Forschungs- und rege Publikationstätigkeiten wesentlich zu dieser Konjunktur beigetragen. Auch der vorliegende Band ist aus dem von Weigel geleiteten Forschungsprojekt "Das Gesicht als Artefakt in Kunst und Wissenschaft" hervorgegangen, das 2011 bis 2013 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.

Die meisten der vierzehn Aufsätze gehen auf Vorträge zurück, die im Rahmen des Symposions "Gesichter - Faces" im Frühjahr 2010 unter Beteiligung mit dem ZfL assoziierter Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen, Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen und Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen in Berlin gehalten wurden. Unter anderen haben Carlo Ginzburg, Helmut Lethen, Thomas Macho und Hanns Zischler Texte beigesteuert. Der Band ist in vier Sektionen gegliedert: Die Aufsätze der ersten, "Leinwand-Gesichter", untersuchen Rhetorik und Reflexionsfiguren der bildlichen Inszenierung von Gesichtern in Fotografie und Film. Die zweite Sektion, "Gesichter zwischen leiblicher Spur und ikonischem Bild", verhandelt bildanthropologische Fragestellungen, die in der dritten Sektion, "Reinheit und Unreinheit des menschlichen Gesichts", weitergeführt werden, während die vierte und abschließende Sektion, "Gesichtsforscher - vom Sehen und Lesen der Gesichter", das Verhältnis zwischen Sichtbarem und Sagbarem von Gesichtern beleuchtet. Der vorangestellte Beitrag von Sigrid Weigel ist nicht im strengen Sinn als Einleitung in den Band gedacht, sondern formuliert die Hauptlinien ihres kulturwissenschaftlichen und bildanthropologischen Forschungsprogramms zum Gesicht als "Artefakt und Bildnis des Humanum" (7).

Die kulturelle Gemachtheit des Gesichts, die verschiedenen Kulturtechniken seiner Komposition und Dekomposition, die medialen Verfahren der Repräsentation und die umfassende theoretische und praktische Arbeit am Gesicht lassen für Weigel keinen Zweifel daran aufkommen, dass "die Geschichte des Gesichts vor allem auch eine Mediengeschichte ist" (9). Eine Geschichte, die jedoch, anthropologisch gesehen, lange vor jenem für die westliche Kultur relevanten Ereignis der "Erschaffung des Gesichts" eingesetzt habe, das Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Gemeinschaftswerk Tausend Plateaus als "Jahr Null von Christi Geburt" (12) bestimmt haben. Weigel vertritt mit Hans Belting dagegen die These, dass das Bildnis aus den im Totenkult verankerten früheren Bildpraktiken Abdruck, Grabmaske und Totenporträt hervorging. Die genealogische Verwandtschaft zwischen Gesichtsbild und Tod wird auch in modernen Bildpraktiken der Fotografie und des Films aufgegriffen und reflektiert. So stellt etwa Roland Barthes an prominenter Stelle seiner Hellen Kammer einen Konnex zwischen Totenbildnis und fotografischem Bildakt her und lässt André Bazin in seinem nicht weniger prominenten Essay Die Ontologie des fotografischen Bildes sowohl die Fotografie als auch den Film aus der altägyptischen Praxis der Mumifizierung der Toten hervorgehen.

Katharina Sykora macht in ihrem Beitrag zu Jean Cocteaus inszenierten Porträts, die ihn als Toten zeigen, auf die Wirkmächtigkeit dieser Bildtradition aufmerksam. Sie weist auf die besondere zeitliche Logik dieser Porträts hin, in denen im ästhetischen Modus des Als-ob der eigene Tod und der ihm vermeintlich zustehende Nachruhm vorweggenommen werden. Der Vergleich mit den Fotografien, die Cocteau Jahre später auf seinem tatsächlichen Totenbett zeigen, verdeutlicht, in welcher Weise gerade die Thematik des Todes die Bildpraktiken des fotografischen Porträts zwischen Mortifizierung (durch den Akt des Fotografierens) und Verlebendigung (im Akt des Betrachtens des fotografischen Bildnisses) infiziert hat. Cocteaus fotografische Geste einer antizipierenden Mimikry ist für Sykora nichts Geringeres als ein "Einspruch gegen den Tod" (82), der auch dann noch seine Gültigkeit bewahre, wenn dieser irgendwann eingetreten ist, weil der prominente Tote noch immer die Kontrolle über sein Bild habe.

Georges Didi-Huberman stellt in seinem Beitrag "Die Politik des Rahmens" die entscheidende Rolle heraus, die Kadrierungen und Dekadrierungen für die Bedeutungsregime von Gesichtern und deren Aussetzen spielen. In Philippe Bazins fotografischen Serien von Gesichtern Neugeborener oder alter Menschen findet Didi-Huberman trotz deren "brutaler Nacktheit" (47) ein subtiles Potenzial ästhetischer Widerständigkeit gegen visuelle Dispositive der Biopolitik und institutionalisierte Porträtpraktiken, die sich vor allem als taktile Qualität zeige. Gerade durch die strenge Eingrenzung der zumeist frontal aufgenommenen Gesichter und durch den Verzicht auf jegliches Beiwerk stelle Bazin einen "überaus komplexen Kontaktraum" (48) her, der den Betrachtern und Betrachterinnen eine Alteritätserfahrung ermögliche. Auch für Didi-Huberman sind die räumlichen und zeitlichen Bedingungen entscheidend, die die ganze Fragilität der menschlichen Existenz ausmachen. Sie setze Bazin als "Materie-Werden" und "Figur-Werden" ins Bild: "Blöcke, die uns anschauen, noch bevor sie ihr menschliches Erscheinungsbild annehmen, Gesichter, die zusammenfallen, noch bevor sie eine gute Figur abgeben" (55). Gesichter sind so verstanden Konstellationen zwischen Signifikanz und Subjektivität, zwischen Sehen und Angesehen-Werden, Figuration und Defiguration, die unbeständig sind und ihre eigenen Fluchtlinien produzieren.

Dass den Visualisierungen des Gesichts trotz aller bildtypologischen und medialen Eigenheiten ein gemeinsames Schema zugrunde liegt, das zugleich kulturelle Machtbeziehungen artikuliert, zeigt auch Anne-Kathrin Reulecke. In ihrem Beitrag steht Georges Franjus Film Les Yeux sans visage (1959) im Zentrum. Für den Gesichtschirurgen dieses Horrorfilms ist das Gesicht eine vom Kopf ablösbare Schicht, eine schöne Oberfläche und undurchdringliche Maske zugleich, die sich auf einen anderen Körper transplantieren lässt. Die Verunstaltung des Gesichts seiner Tochter durch einen von ihm verschuldeten Unfall kommt einem sozialen Tod gleich, den er mit allen chirurgischen und verbrecherischen Mitteln ungeschehen machen will. Dass Franju diesen Kampf zwischen Signifikanz (das Gesicht als äußere Fläche) und Subjektivität (das Gesicht als innere Tiefe) vor allem mit dem filmischen Mittel der Großaufnahme führt, ist nur folgerichtig, denn, wie nicht zuletzt Deleuze und Guattari gezeigt haben, isoliert sie das Gesicht von Körper und Umgebung und macht es so zu einem Schema.

Mit der Gesichtschirurgie kommt Reulecke zugleich auf eine medizinische Praxis zu sprechen, in der kulturell geformte Vorstellungen eines schönen, weißen weiblichen Gesichts normativ verwendet werden. Doch gerade Überlegungen zu aktuellen Gesichtspolitiken und den Machtgefügen, in die diese verstrickt sind, kommen in diesem Band zu kurz. Welche Horizonte die "Arbeit am Bildnis des Menschen", wie der Untertitel verheißt, eröffnen könnte, findet sich in den Beiträgen eher am Rande. So beschließt Albrecht Koschorke seinen Beitrag "Zur Kulturgeschichte der Nase" mit einer epistemologischen Überlegung zur Ablösung der klassischen Physiognomik und ihrer bevorzugten Symmetrie, die jedoch, in die letzte Fußnote verbannt, seltsam folgenlos bleibt. Dort argumentiert er: "Die klassische Physiognomik hatte es in aller Regel mit symmetrischen Gesichtern zu tun [...]. Erst in den Gesichtern des 19. Jahrhunderts spielt die Unterscheidung zwischen linker und rechter Gesichtshälfte eine maßgebliche Rolle - wie auch die Neurologie [...] den funktionalen Abweichungen zwischen den beiden Körperhälften eine immer größere Bedeutung einräumt", und schlussfolgert, dass sich damit "der Akzent von stratifikatorischer auf horizontale Differenzierung" verschoben habe (198). Aus dieser Akzentverschiebung, die womöglich mehr als das ist und über die Neurologie hinaus Wirksamkeit entfaltet, ließen sich Fragen nach einer anderen Epistemologie des Gesichts (im Rahmen des Schemas Signifikanz-Subjektivität) und ihren Folgen gerade für die Wissenschaften vom Menschen stellen, deren Beantwortung von kulturwissenschaftlicher Kompetenz profitieren würde.

Expliziter formuliert Gerhard Neumann am Ende seines Beitrags zur prekären "Lesbarkeit des Gesichts" am Beispiel einer Erzählung Heinrich Heines die Konsequenzen eines Scheiterns dieser vermeintlichen Lesbarkeit der Zeichen am Menschen. Heines "Poetologie des Scheiterns" und "paradoxe Hermeneutik des Unentzifferbaren" könnten "zur Vorhut der Moderne" gehören, denn Heine "fragt nicht mehr danach, wie eine Kultur ihre Zeichen organisiert und wie sie deren Bedeutung verwaltet und operationalisiert; sondern er stellt sich die neue und kühnere Frage, wie eine Kultur mit ihren unauflösbaren, ihren unentzifferbaren Zeichen umgeht; der nicht mehr zu heilenden Verkeilung von aufklärerischer Vernunft und obstinater Verrätselung" (215) - eine Frage, die sich Neumann zufolge erst im 20. Jahrhundert vehement stelle.

Um diesen angedeuteten Fluchtlinien des Gesichts nachzugehen, lassen sich andere Szenen vorstellen, andere Körper- und Kulturtechniken des Gesichts beschreiben, die den Geltungsbereich der Kulturgeschichte auch auf Praktiken des Entzugs und der Verweigerung biopolitischer Kontrolle und kultureller Hegemonie ausweiten. Diese haben seit Langem nicht nur in unsere westlich geprägte Kultur Einzug gehalten und entsprechende Gesichtspolitiken ausgeprägt. Dafür müsste man sich aber auf andere Schauplätze begeben.

Petra Löffler