Rezension über:

Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): Germany and 'The West'. The History of a Modern Concept, New York / Oxford: Berghahn Books 2015, IX + 317 S., ISBN 978-1-78238-597-4, GBP 60,00
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Rezension von:
Michael Hochgeschwender
Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hochgeschwender: Rezension von: Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): Germany and 'The West'. The History of a Modern Concept, New York / Oxford: Berghahn Books 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/27297.html


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Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): Germany and 'The West'

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Der Westen hat aus vielerlei Gründen wieder Konjunktur. Nach dem scheinbar triumphalen und endgültigen Sieg der USA und ihrer Alliierten schien es 1989/91, als sei alle Welt zum Westen geworden und das "Ende der Geschichte" angebrochen. Das neoliberale Globalisierungsparadigma setzte primär auf quantitative Geldwerte und stellte die Frage nach den konkreten Inhalten einer wie auch immer gearteten westlichen Wertegemeinschaft erkennbar zurück. Die Idee des Westens wich dem Glauben an die Allmacht der Marktkräfte, die zuvor nur ein Bestandteil einer wesentlich umfassenderen Werteordnung gewesen waren. Mit den Weltwirtschaftskrisen von 2000 und vor allem 2008 wurde dieses mit beinahe religiöser Inbrunst vorgetragene Credo zumindest brüchig, wenn nicht obsolet. Schlimmer noch: Der Einmarsch russischer Truppen auf der Krim und der nicht enden wollende Konflikt um die Hegemonie in der Ukraine machten zwar nicht die Rückkehr des Kalten Krieges, wohl aber des wesentlich umfassenderen Ost-West-Konfliktes wahrscheinlich. Die europäischen Währungs- und Flüchtlingskrisen warfen gleichfalls Fragen nach den noch vorhandenen Gemeinsamkeiten auf. Und schließlich machte der Konflikt mit dem militanten Islamismus deutlich, wie wenig tragfähig die Vorstellung vom finalen Sieg des Westens immer schon gewesen war. Ein neues Feindbild, der antiwestliche, nicht aufgeklärte, antimoderne salafistische Terrorist ersetzte den abhanden gekommenen sowjetischen Ideologen und Machtpolitiker.

Der Westen musste sich angesichts neuer Herausforderungen neu positionieren. Dies galt freilich nicht allein auf der ökonomischen und der politischen Ebene. Auch in der Geschichtswissenschaft stellte sich das Problem, was mit dem Konzept des Westens inhaltlich und analytisch verknüpft war, mit neuer Dringlichkeit. Bereits in den späten 1990er Jahren hatten sich Anselm Doering-Manteuffel und seine Tübinger Schule, aber auch Axel Schildt, Edgar Wolfrum und Manfred Görtemaker intensiv mit dem Prozess der Westernisierung Westdeutschlands in der Nachkriegszeit auseinandergesetzt und dabei kritisch an die Amerikanisierungsforschungen Volker Berghahns angeknüpft, skeptisch begleitet von einer jüngeren Historikergeneration um Friedrich Kießling, Philipp Gassert und später Peter Hoeres. Zu den Hauptvorwürfen an die Adresse der Westernisierungsschule zählte einerseits, sie würden eine apologetisch anmutende, auf sozialliberale Reformkreise beschränkte Ideen- und Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik schreiben, während sie sich zwar andererseits eingehend mit der Phase zwischen 1920 und 1970 beschäftigt hätte, es dem Konzept des Westens aber an historischer Tiefenschärfe mangele. Dieses Mankos nahm sich dann in atemberaubender Manier Heinrich August Winkler mit seiner monumentalen, mehrbändigen "Geschichte des Westens" an, mit der er an eine ältere Linie von Westernisierungsgeschichte anknüpfte, die auf Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal, Ralf Dahrendorf und bis zu einem gewissen Grade Jürgen Habermas zurückging. Anders als die Tübinger Westernisierer ging Winkler gar von der Antike aus und verfasste eine regelrechte Weltgeschichte der Westernisierung. Damit positionierte er sich - nolens, volens - in einer weiteren wissenschaftlichen Debatte, die weniger von den deutschen Befindlichkeiten, sondern vielmehr von den nationalen Identitätsdebatten in den USA charakterisiert war: dem Konflikt zwischen einer gemeinwestlich-universalistischen Lesart des amerikanischen Exzeptionalismus, seiner nationalistischen Lesart und der postmodernen beziehungsweise postkolonialen Kritik an den liberal-universalistischen Entwürfen "westlicher" amerikanischer Identität. Diese Debatten entzündeten sich mit schöner Regelmäßigkeit an den etablierten Universitätscurricula der Kurse zu Western Civilization.

Der vorliegende Band knüpft gerade in seiner klugen, sehr präzisen und kenntnisreichen Einleitung aus der Feder der beiden Herausgeber an sämtliche Grundfragen des Diskurses um den Westen an. Im Mittelpunkt aber steht die ebenso wohlwollende wie nachdenkliche Auseinandersetzung mit Winkler. Es handelt sich bei dem schlanken, aber hochinformativen und ertragreichen Sammelband um das Ergebnis einer gemeinsamen Konferenz des Deutschen Historischen Instituts in London und der schottischen Universität von St. Andrews. Die Beiträger entstammen überwiegend einer jüngeren Historikergeneration, die gerade dabei ist, sich im Feld zu positionieren. Vor allem aber sind sie ausgesprochen international aufgestellt, was einen Reichtum an Perspektiven ermöglicht, der gerade diesem von mannigfaltigen ideellen, politischen, kulturellen, ethnischen und sozioökonomischen Gemengelagen durchwobenen Thema nur Vorteile bringt. Die 17 in aller Regel empirisch sorgfältig fundierten, gleichwohl aber analytischen Aufsätze werden auf fünf generalisierende Blöcke verteilt, deren Einteilung nicht durchweg auf den ersten Blick klar wird. Dennoch handelt es sich um keine Buchbindersynthese, denn die Frage nach den jeweiligen semantischen Gehalten des Konzepts Westen durchzieht als zentraler roter Faden sämtliche Artikel. Zwar könnten die einzelnen Beiträge problemlos für sich stehen, aber gerade in der Gesamtlektüre ergeben sie faszinierende Einblicke in die Vielfalt, die den Westen auszumachen scheint. Vor allem gelingt es, den Westen historisch tiefenscharf und facettenreich zu verankern, wenn etwa der Variantenreichtum des Wortgebrauchs zwischen der Sattelzeit und der frühen Bundesrepublik allein für Deutschland sorgfältig nachgezeichnet oder das Verhältnis deutscher Orientalisten zu Ost und West oder die Sicht auf Russland in den mental maps deutscher und russischer Intellektueller behandelt wird. Besonders verdienstvoll ist das breite Eingehen auf konservative Westlichkeitsdiskurse, die in der Westernisierungsforschung notorisch vernachlässigt wurden; aber auch sozialistische und jüdische Akteure kommen zu Wort.

Ein Manko jedoch bleibt: Gerade angesichts der kritischen Rückfragen postmoderner und konservativer Historiker an den liberalen Universalismus, wie er sich in spezifischen Kontexten des Redens vom Westen ausdrückt, hätte man sich ein vertieftes Eingehen auf die ideengeschichtlichen Problematiken gewünscht. So drängt sich der Eindruck auf, der permanente Rekurs auf den inneren Zusammenhang von Westen und Aufklärung verdecke die zutiefst voluntaristischen, dezisionistischen, ja irrational-dogmatischen Selbstzuschreibungen und Praktiken, die mit dem Westen als Ideologem verbunden sind. Obendrein hätte man intensiver danach fragen können, was angesichts des Erbes imperialer und kapitalistischer Ausbeutungspraktiken sowie militärischer Gewaltentgrenzung in den Kolonien des Westens das Konzept eigentlich außerhalb des Westens und Russlands bedeutet. Aber dies hätte die selbst gesetzten Grenzen des Bandes gewiss überschritten, was seiner inneren Kohärenz geschadet hätte. Insgesamt bleibt ein außerordentlich positiver Gesamteindruck. Der vorliegende Band informiert sorgfältig und regt zum Nachdenken und zu weiterer Diskussion an.

Michael Hochgeschwender