Sigrid Hirbodian / Sheilagh Ogilvie / Johanna Regnath (Hgg.): Revolution des Fleißes, Revolution des Konsums. Leben und Wirtschaften im Ländlichen Württemberg von 1650-1800 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde; Bd. 75), Ostfildern: Thorbecke 2015, 196 S., ISBN 978-3-7995-5275-2, EUR 34,00
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Sammelbände, gerade wenn sie die Ergebnisse wissenschaftlicher Tagungen dokumentieren, vereinen nicht selten Beiträge, die trotz eines gemeinsamen Themas wenig Bezug zu einander aufweisen. Der vorliegende Band will mehr: Hervorgegangen aus einer 2012 veranstalteten, gleichnamigen Tagung sollen die "Ergebnisse und Thesen der Cambridger Arbeitsgruppe um Sheilagh Ogilvie" zur "Industrious Revolution", die anhand württembergischer Quellen formuliert wurden, "in den Kontext landesgeschichtlicher Forschung einerseits sowie allgemeiner Forschungen zur Entwicklung ländlicher Gesellschaften im frühneuzeitlichen Deutschland" gestellt und diskutiert werden (VII). Diesem Konzept entsprechend enthält der Band einerseits Beiträge des Autorentrios Sheilagh Ogilvie, Markus Küpker und Janine Maegraith, und andererseits Studien vornehmlich württembergischer Landeshistoriker und -historikerinnen. Komplettiert wird das Werk durch knappe Kommentare ausgewiesener Expertinnen und Experten der behandelten Themenfelder (Wolfgang Zimmermann, André Holenstein, Sabine Ullmann).
Bevor auf einzelne Beiträge eingegangen werden kann, einige Anmerkungen zur Gesamtkonzeption: Für den Band spielt Sheilagh Ogilvie auf mehreren Ebenen die zentrale Rolle: Dieser dient nicht nur der Diskussion ihrer Thesen, die Historikerin fungiert auch als Mitherausgeberin, als Mitautorin dreier Studien und als Einzelautorin eines Beitrags. Ob dieses Setting einer kritischen Auseinandersetzung mit den präsentierten Ergebnissen des von ihr geleiteten Projekts dienlich ist, erscheint fraglich.
Irritation erzeugt auch der erste Satz der von Ogilvie mitunterzeichneten Einführung der Herausgeberinnen: "'Industrious Revolution' - 'Revolution des Fleißes', auf diese griffige Formel brachte Sheilagh Ogilvie ihre Überlegungen zum Zusammenhang von Arbeits- und Konsumverhalten und der Wirtschaftsentwicklung in europäischen Gesellschaften vor 1800." (VII) Diese Aussage lässt kaum eine andere Interpretation zu, als habe Ogilvie das Konzept der "Industrious Revolution" entwickelt. Dazu trägt bei, dass die zweieinhalb Seiten umfassende Einleitung keinerlei Überblick über die Forschungsgeschichte zum behandelten Thema bietet. Der Leser / die Leserin erfährt eher beiläufig von den maßgeblichen und international breit rezipierten Publikationen von Jan de Vries zu diesem Forschungsfeld (38). [1] Im Rahmen eines Handbuchs beschrieb auch Roman Sandgruber bereits vor über zwanzig Jahren das "Jahrhundert des Fleißes" zwischen 1750 und 1850. [2] Für den nicht eingeweihten Rezipienten wäre es außerdem interessant gewesen, bereits zu Beginn der Lektüre zu erfahren, welches von Ogilvie geleitete Forschungsprojekt sich hinter der eingangs erwähnten "groß angelegten Quellenstudie" (VII) verbirgt und mit dem vorliegenden Band diskutiert werden soll. Dieses Fehlen einer fundierten wissenschaftlichen Einleitung verleiht der Lektüre des Bandes einen etwas schalen Beigeschmack.
Steht die Konzeption des Bandes einer Auseinandersetzung mit breiteren Forschungszusammenhängen eher im Wege, ist die Frage zu klären, inwieweit die einzelnen Beiträge aufeinander Bezug nehmen. Auch hier ist festzustellen, dass der selbst formulierte Anspruch, "landesgeschichtliche Forschung [...] ins Gespräch mit überregionalen Forschungen, ja weltweit argumentierenden Thesen und Theorien zu bringen" (VIII), nicht eingelöst wird.
Teil A widmet sich den "Quellen": In einer materialreichen Studie untersucht Sabine Holtz zunächst "Serielle Quellen aus dem frühneuzeitlichen Württemberg im Kontext von Fleiß und Konsum". Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die harten Lebensbedingungen die Bevölkerung zwar zu Fleiß zwangen, eine Konsumrevolution jedoch nicht festzustellen sei. Eine Auseinandersetzung mit Thesen Ogilvies unterbleibt freilich. Dies gilt auch für den eher quellenkundlich angelegten Beitrag von Harald Müller-Braun zu Kirchenbüchern. Abgeschlossen wird der erste Teil durch die "Erfahrungen und Erkenntnisse im Umgang mit 'Inventuren und Teilungen'", die im Rahmen des - hier erstmals genannten - Projekts von Ogilvie "Human Well-Being and the 'Industrious Revolution': Consumption, Gender and Social Capital in a German Developing Economy, 1600-1900" (2008-2012) gesammelt wurden. Datenbasis für die Untersuchung bilden die Bestände "Inventuren und Teilungen" der beiden kleinen württembergischen Gemeinden Wildberg und Auingen bei Münsingen. Neben einer Vorstellung der Quellen und ihres Interpretationspotentials steht die methodische Auswertung durch eine Datenbank im Zentrum der Ausführungen.
In Teil B "Der Staat im Dorf: Herrschaft, Beamte und Gemeinden" untersuchen Ogilvie, Küpker und Maegraith "Die lokale Regulierung des Konsums im frühneuzeitlichen Württemberg". Sie zeigen, dass Obrigkeiten durchaus Willens waren, Kleiderordnungen Geltung zu verschaffen und damit den Konsum ihrer Untertanen einzuschränken. Trotzdem gelang es nicht, individuelles Handeln völlig zu ersticken (73). Dem württembergischen Textilgewerbe im 16. Jahrhundert - also vor der "Industrious Revolution" - widmet sich Georg Moritz Wendt am Beispiel eines Konflikts zwischen den Städten Kirchheim und Owen.
Teil C "Ländliches Wirtschaften und Materielle Kultur" beinhaltet neben Ogilvies abschließendem Beitrag "Revolution des Fleißes. Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800" vier Studien. Gunter Mahlerwein diskutiert die ungleichzeitige Entwicklung der landwirtschaftlichen Modernisierung und stellt die Frage nach einer Verbindung zwischen Innovation bzw. gesteigertem Fleiß und wachsenden Konsumansprüchen. Anhand von Fallbeispielen analysiert Andreas Maisch die ökonomischen Strategien unterschiedlicher Gruppen württembergischer Dorfbewohner im 18. Jahrhundert. Auf der Grundlage der von ihnen analysierten "Inventuren und Teilungen" untersuchen Ogilvie, Küpker und Maegraith private Haushaltsschulden in Wildberg im 17. Jahrhundert. Herausgearbeitet wird u.a., dass die meisten Kreditbeziehungen nicht im engeren Umfeld der Kreditnehmer bestanden, sondern zu Leuten, "zu denen die Schuldner außerhalb des Schuldverhältnisses keine andere dokumentierte Beziehung besaßen" (155). Zum gegenteiligen Ergebnis kommt Anne Mach, die "Praxis, Organisation und Funktion des ländlichen Kreditmarktes in Württemberg vom 17. bis zum 19. Jahrhundert" beschreibt.
Der Gesamteindruck, den dieser Sammelband hinterlässt, ist ambivalent: Einzelnen Beiträgen gelingt es, auf Basis aus den Quellen generierter Statistiken wie etwa zu Verurteilungen wegen Missachtung von Kleiderordnungen oder zur privaten Verschuldung längerfristige Trends offenzulegen. Daten zur Kreditaufnahme lassen - zumindest für Wildberg - "keinerlei Anhaltspunkt für irgendeine Expansion [...] während des 17. Jahrhunderts, wie er für nordatlantische Gesellschaften wie England, Frankreich oder die Niederlande beschrieben ist", erkennen (147). Interpretiert wird dieses Phänomen mit den desaströsen ökonomischen Folgen des Dreißigjährigen Kriegs, der den ländlichen Kreditmarkt in Deutschland abgewürgt habe. Nicht lösen kann der Band das viel diskutierte Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichte. Inwieweit regionale oder lokale Ergebnisse verallgemeinerbar sind, muss daher offen bleiben.
Anmerkungen:
[1] Z.B. Jan de Vries: The Industrial Revolution and the Industrious Revolution, in: The Journal of Economic History 54 (1994), 249-270; Ders.: The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, New York u.a. 2008; vgl. Alexis D. Litvine: The Industrious Revolution, the Industriousness Discourse, and the Development of Modern Economies, in: The Historical Journal 57 (2014), 531-570.
[2] Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 143-231.
Peter Rauscher