Rezension über:

Sarah Gensburger: Witnessing the Robbing of the Jews. A Photographic Album, Paris, 1940-1944, Bloomington, IN: Indiana University Press 2015, IX + 219 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-0-253-01733-8, USD 35,00
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Rezension von:
Christoph Kreutzmüller
Jüdisches Museum, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Kreutzmüller: Rezension von: Sarah Gensburger: Witnessing the Robbing of the Jews. A Photographic Album, Paris, 1940-1944, Bloomington, IN: Indiana University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/07/28956.html


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Sarah Gensburger: Witnessing the Robbing of the Jews

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Vor der großen Kulisse des Louvre schultern vier Männer eine akkurat nummerierte Kiste in einen Umzugswagen einer französischen Speditionsfirma, vor dem ein weiterer Arbeiter wartet. In der Weite des Hofes, an einer Wachhütte, sehen zwei Personen zu. Dies ist eins von 85 Fotos eines Albums, das im Jahr 1948 von einer deutschen Mitarbeiterin des Münchener Central Collecting Point des - inzwischen filmisch verklärten - US Monuments, Fine Arts, and Archives Program zusammengestellt worden ist. Und es ist das Titelbild der großartigen englischen Edition des Albums von Sarah Gensburger, das bereits 2010 als "Images d'un pillage" in Paris erschienen ist. Dabei formuliert sie den Anspruch, das Album nicht nur als Quelle zu analysieren, sondern auch ihre persönliche Perspektive als Betrachterin in die Analyse einzubeziehen, um so die Vieldeutigkeit der Bilder hinter den Bildern aufzuschlüsseln. Damit schließt sie an einen "visual turn" an, der in den letzten Jahren auch in der Holocaust-Forschung zu beobachten ist, und beklagt - sehr zu Recht - den allzu häufigen gedankenlosen Gebrauch von Fotos als Illustration.

In ihrer Einleitung geht Gensburger nicht nur auf die - nicht vollständig zu rekonstruierenden - Hintergründe der Erstellung des Albums ein, sondern fasst auch die Entwicklung der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden in Frankreich konzise zusammen. Dabei betont sie, dass die Beutegier verschiedener deutscher Personen und Instanzen mit dem Willen des Vichy Regimes korrelierte, das Eigentum der Juden für eigene Zwecke zu vereinnahmen. Aus diesen Interessen entwickelte sich eine mörderische Dynamik, deren Leidtragende die Juden in Frankreich wurden.

Im Hauptteil des Buches werden die Fotos - auf ein einheitliches Maß gebracht - der Reihe nach präsentiert und kommentiert. Fünf einleitenden Fotos, die aus eher touristischer Perspektive gleichwohl die Orte der Täter - des Einsatzstabes Rosenberg - zeigen, folgt eine Sequenz, die den Abtransport von Objekten aus vereinnahmten Sammlungen jüdischer Familien aus einem Depot des Louvre zeigt. Dem folgt eine Reihe von Fotos, die das Beladen von Wagen mit Hausrat und deren Verfrachtung in Eisenbahnwagen zeigt. In den nächsten Sequenzen wird die Ankunft von Kisten und Lifts in den Pariser Depots und das Sortieren der Flut der einlaufenden Gegenstände des täglichen Lebens - von Backformen bis hin zu Puppen sowie eine Inspektion des Leiters der "Möbel-Aktion", Kurt von Behr, abgebildet. Am Ende des Albums stehen Bilder von Schauräumen mit luxuriösen Sitzgarnituren in dem ehemaligen Kaufhaus Léviathan. Gensburger gelingt es in vielen Fällen, den Ort der Aufnahme zu bestimmen. Auch die in einigen Fotos ins Bild kommenden jüdischen Zwangsarbeiter kann sie teilweise identifizieren; zudem ist sie in der Lage, durch kluge Analyse einzelne Fotoserien innerhalb des Albums zu datieren.

Dabei fokussiert sie nicht nur auf die abgebildeten Personen, sondern auch auf die abgebildeten Gegenstände, um Erkenntnisse über die Bedeutung dieser Gegenstände und ihres Raubes für die Täter gewinnen zu können. So hinterfragt sie, inwieweit das "taxonomic eye of the album's creators" (17) den ursprünglichen Intentionen der - aller Wahrscheinlichkeit nach - deutschen Fotografen entspricht. Beiden ging es um die Darstellung einer Ordnung von Massen von Dingen - wenngleich aus entgegengesetzten Motiven. Der "taxonomische Blick" des Albums, so zeigt Gensburg in ihrem letzten Kapitel, verführt freilich auch die heutigen Betrachter - und natürlich auch Historiker - bis zum heutigen Tag.

In seiner Gesamtheit mutet das Album fast wie der Musterkatalog eines Versandhauses an. Auch wenn es erst nach dem Krieg zusammengestellt worden ist, bildet es doch den physischen Auftakt zur systematischen Verwertung des Eigentums deportierter Juden ab. In diesem Sinne sind die Fotos des Albums gleichsam als Vorspiel der brutalen Resteverwertung der Nachlassenschaften der Ermordeten anzusprechen, die im sogenannten Auschwitz-Album - unter der Überschrift "Effekten" - sieben Seiten füllen. [1] Es liegt in der Natur der Fotos aus Frankreich, dass die kleinen Nutznießer des gigantischen Raubprogramms im Deutschen Reich nicht zu sehen sind. Diese kommen aber beispielsweise in einer der beiden von Andreas Nachama und Klaus Hesse herausgegeben Fotoserien aus Lörrach, sich drängelnd Schlange stehend, in den Blick. [2]

Ob nun tatsächlich Paris, trotz seiner herausragenden Bedeutung für die schönen Künste, die "Hauptstadt der Plünderung" war, wie Gensburg im Titel ihrer Einleitung formuliert, muss angesichts der völligen Verheerung des Ostens Europas durch deutsche Besatzungsinstanzen hinterfragt werden. Dies schmälert aber nicht das Verdienst den Quellenkorpus präzise kontextualisiert, individuell kommentiert und damit der interessierten Öffentlichkeit wie auch der Forschung zugänglich gemacht zu haben.


Anmerkungen:

[1] Israel Gutman / Bella Guttermann (Hgg.): Das Auschwitz Album. Die Geschichte eines Transports, Göttingen 2005.

[2] Andreas Nachama / Klaus Hesse: Vor aller Augen. Die Deportation der Juden und die Versteigerung ihres Eigentums. Fotografien aus Lörrach, 1940, Berlin 2011, 74-83.

Christoph Kreutzmüller