Keya Thakur-Smolarek: Der Erste Weltkrieg und die polnische Frage. Die Interpretationen des Kriegsgeschehens durch die zeitgenössischen polnischen Wortführer (= Osteuropa; Bd. 48), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2014, XVI + 638 S., ISBN 978-3-643-12777-8, EUR 69,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die "polnische Frage" im Ersten Weltkrieg ist das Thema der Dissertation, die Keya Thakur-Smolarek 2010 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereicht hat und die nun erschienen ist. Darin untersucht die Verfasserin die Veröffentlichungen polnischer Meinungsführer in Kongresspolen, Galizien und Preußen während des Ersten Weltkriegs. In der Zeit von der Julikrise 1914 bis Ende 1917 - so die der Dissertation zugrundeliegende These - habe sich aus unterschiedlichen und teils widerstreitenden Loyalitäten und Zielen der Parteien und politischen Gruppen in den drei Teilungsgebieten ein partei- und grenzüberschreitender Konsens in Bezug auf die Forderung nach einem unabhängigen polnischen Nationalstaat entwickelt. Ausführlich analysiert die Verfasserin das Kriegsgeschehen und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die den Wandel in der "veröffentlichen Meinung" und die zunehmende Befürwortung der Unabhängigkeitsidee durch die polnische Bevölkerung weitaus stärker beeinflusst hätten als die Unterstützung bestimmter politischer Ideen.
Als Quellen der Arbeit dienen veröffentlichte, zumeist zensierte, teils auch illegale Texte, insbesondere Zeitungen und Zeitschriften, Flugblätter, öffentliche Ansprachen sowie Reden polnischer Abgeordneter in den Parlamenten der Teilungsmächte. Der Schwerpunkt liegt auf Kongresspolen, das 1915 von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzt und bis Kriegsende verwaltet wurde. Für dieses Gebiet untersucht die Verfasserin das gesamte Parteienspektrum, ohne jedoch den Einfluss der katholischen Kirche auf die politische Willensbildung einzubeziehen, da dieser Themenkomplex zu umfangreich sei und daher in einer eigenständigen Forschungsarbeit behandelt werden sollte. Galizien und das preußische Teilungsgebiet werden hingegen weniger ausführlich behandelt, für Preußen beschränkt sich die Quellenauswahl auf lediglich drei Zeitungen. Erzählende Quellen, Erinnerungen und zeitgenössische Aufzeichnungen werden nur punktuell, Leserbriefe überhaupt nicht in die Untersuchung einbezogen.
Die Verfasserin wertet die Quellen mittels einer systematischen, qualitativen Inhaltsanalyse aus. Sorgfältig legt sie in der Einleitung ihre Untersuchungsmethode und die Kriterien für die Auswahl der untersuchten Texte dar, womit sie die Forderung nach Transparenz und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit erfüllt. Hervorzuheben ist, dass Thakur-Smolarek Kommunikationszusammenhänge und Rahmenbedingungen, wie etwa die Auswirkungen von Zensur und Presselenkung, Lücken in der Presseberichterstattung oder das Beschweigen von Ereignissen reflektiert und die politischen Entwicklungen souverän in die Untersuchung einbezieht. Indes wäre es der Arbeit zugutegekommen, wenn auch medienwissenschaftliche Fragestellungen systematisch berücksichtigt worden wären. So werden die Funktion der Meinungsführer und die Rolle der Medien auf dem stark fragmentierten politischen Massenmarkt, die Einbettung der Zeitungen in soziokulturelle Milieus, Fragen der Repräsentativität und Rezeption sowie Prozesse des politischen und Ideentransfers über Grenzen und Kriegsfronten hinweg nur vereinzelt angesprochen.
Die Arbeit ist chronologisch in fünf Hauptkapitel gegliedert und umfasst die Zeit von der Julikrise 1914 bis zu den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk 1918. Die Unterkapitel sind stets nach demselben Muster aufgebaut: Einer Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation folgt - jeweils separat für die Teilungsgebiete - eine Analyse der zeitgenössischen polnischsprachigen Veröffentlichungen. Dabei werden die vielfältigen Wahrnehmungen und Deutungen der verschiedenen Parteien und deren Veränderungen im Kriegsverlauf sehr sorgfältig herausgearbeitet. Prägnant zusammengefasst, ist für die Zeit des Ersten Weltkriegs eine Entwicklung von überwiegender Loyalität der Polen zur jeweiligen Teilungsmacht und der Abgrenzung zu den Kriegsgegnern über Phasen der Kooperation einiger Parteiströmungen mit den Mittelmächten in Kongresspolen 1915/16 bis hin zur Distanzierung von allen drei Teilungsmächten und der Forderung nach Errichtung eines unabhängigen polnischen Nationalstaates festzustellen.
Als Gründe für diese Entwicklung führt die Verfasserin für jedes Teilungsgebiet spezifische Bedingungen an, die sich im Verlauf des Krieges zu einer gesamtpolnischen Erfahrung verdichteten: In Kongresspolen gehörten die Kriegszerstörungen, Flucht und Deportationen im ersten Kriegsjahr zu den fundamentalen Erfahrungen der Bevölkerung, gefolgt von systematischer wirtschaftlicher Ausbeutung, fehlender politischer Mitsprache und Ungewissheit über die Zukunft des Landes unter deutsch-österreichischer Besatzung. Dies konnte durch kulturpolitische Zugeständnisse, die Proklamation des Königreichs Polen am 5. November 1916 und die Bildung machtloser politischer Körperschaften kaum abgemildert werden. Infolgedessen sei in den polnischsprachigen Veröffentlichungen ein tiefgreifender Widerwille gegen die als obcy bezeichneten fremden Besatzer vermittelt und zur samoobrona (Selbstverteidigung) aufgerufen worden. In Galizien seien die zahlreichen Verhaftungen, Verurteilungen und Hinrichtungen von galizischen Polen aufgrund der Spionagefurcht der österreichischen Behörden entscheidend für die zunehmende Distanzierung der polnischen Meinungsführer von Österreich-Ungarn gewesen. Dazu hätten auch die enttäuschten Hoffnungen auf größere Autonomie des Kronlands innerhalb der Donaumonarchie oder gar auf die Angliederung Kongresspolens an Galizien beigetragen. Für das preußische Teilungsgebiet sei weiterhin die repressive Polenpolitik konstitutiv gewesen. Zwar wurden während des Krieges einige antipolnische Gesetze aufgehoben, doch seien weder das System der Diskriminierung der Polen beseitigt noch bedeutende Schritte hin zu deren staatsbürgerlicher Gleichberechtigung unternommen worden. Aufgrund dieser spezifischen Erfahrungen habe sich die Wahrnehmung der polnischen Meinungsführer verfestigt, dass die Interessen der polnischen Bevölkerung der drei Teilungsgebiete in grundsätzlichen Zukunftsfragen kaum beachtet würden. Vielmehr habe besonders das Deutsche Reich annexionistische Kriegsziele verfolgt und für Polen lediglich die Rolle eines abhängigen Pufferstaats vorgesehen. Die Überlassung kongresspolnischer Gebiete an den neuen ukrainischen Staat im Februar 1918 habe die fehlende Mitbestimmung der Polen augenfällig bestätigt und - abgesehen von einer kleinen aktivistischen Elite in Kongresspolen - deren Abwendung von den Mittelmächten weiter vertieft.
Als Ergebnis steht eine Studie, die durch eine profunde Analyse der Diskussionen über die aktuelle Lage und die Zukunft Polens in den polnischsprachigen Öffentlichkeiten Kongresspolens, Galiziens und Preußens während des Ersten Weltkriegs besticht. Besondere Anerkennung verdient die Verknüpfung des politischen Denkens mit der kriegsbedingten Situation breiter Bevölkerungsschichten. Allerdings erfolgt die Untersuchung dieses Zusammenhangs allein über die öffentlich agierenden Meinungsführer und Medien, ohne die Frage nach der politischen Wirksamkeit medialer Diskurse ausreichend zu reflektieren. Die Annahme, dass die ausführliche Erörterung der Kriegserfahrungen und -deutungen die Bevölkerung zum Subjekt des politischen Prozesses gemacht, zur politischen Integration beigetragen und neue kollektive Identitäten geprägt habe, hätte anhand medienwissenschaftlicher Erkenntnisse vertieft werden können. Ein nützliches Hilfsmittel ist das Glossar; allerdings fehlt ein Register, das dazu beigetragen hätte, die umfangreiche Studie besser zu erschließen.
Robert Spät