Rezension über:

Piero Majocchi: La seta di Cangrande. Rituali funerari e distinzione sociale in Italia nel Medioevo (ca. 500-1450) (= Nuovi Studi Storici; 97), Roma: Istituto Storico Italiano per il medio evo 2015, 222 S., ISBN 978-88-98079-40-7, EUR 35,00
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Rezension von:
Étienne Doublier
Historisches Seminar, Bergische Universität, Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Étienne Doublier: Rezension von: Piero Majocchi: La seta di Cangrande. Rituali funerari e distinzione sociale in Italia nel Medioevo (ca. 500-1450) , Roma: Istituto Storico Italiano per il medio evo 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/29182.html


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Piero Majocchi: La seta di Cangrande

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Am 22. Juli 1329, nur vier Tage nach der triumphalen Einnahme von Treviso, starb im Alter von 38 Jahren der Stadtherr von Verona Cangrande della Scala. Von der eroberten Stadt wurden die Gebeine des Generalkapitäns des Ghibellinenbundes und angeblichen kaiserlichen Vikars auf einem von vier Pferden gezogenen Wagen ehrenvoll zurück nach Verona überführt. Der Überlieferung nach soll der prächtige Trauerzug von zahllosen Rössern, Fußsoldaten und bewaffneten Rittern in schwarzen Kleidern begleitet worden sein, während auf dem Sarg des Signore das Wappen des Scaligers plakativ lag. Die darauffolgende Begräbnisfeier in Verona und die Errichtung eines monumentalen Grabmales bei der Familienkirche S. Maria Antiqua beeindruckten die Zeitgenossen vor allem aufgrund der kostspieligen Zurschaustellung von Macht und der theatralischen Demonstration von Reichtum. Man sollte sich an königliche Trauerfeiern erinnern, etwa an die Heinrichs VII. in Pisa (1311).

Die Begräbnisfeier und Errichtung des Grabmals Cangrandes können als zeitweiliger Höhepunkt einer doppelten Entwicklung verstanden werden: auf der einen Seite bildete sich dadurch ein auf die eigene politische und institutionelle Legitimierung zielender Prozess von Wiederentdeckung königlicher Memorien seitens des städtischen Adels Oberitaliens heraus. Auf der anderen Seite kulminierte diese kulturpolitische Bewegung in der bewussten Rezeption königlicher Begräbnisrituale zwecks sozialer Distinktion und Hervorhebung. Beide Entwicklungsprozesse bilden den Gegenstand der vorliegenden Arbeit von Mario Majocchi, die sich als Versuch versteht, durch die Behandlung von Begräbnisritualen bei der städtischen Aristokratie im mittelalterlichen Italien ein altes Forschungsdesiderat zu erfüllen (6). In seinem Gesamtkonzept ist der Band ausdrücklich auf die longe durée hin ausgerichtet, denn der Verfasser schildert darin die Hauptzüge der Entwicklung christlicher Begräbnisrituale bei Kaisern, Königen und Adligen von Konstantin († 337) bis zur Renaissance (Mitte des 15. Jahrhunderts). Ungefähr drei Viertel der Studie (die Kapitel II bis IV) richten allerdings das Augenmerk auf das Gebiet Oberitaliens im 13. und vor allem 14. Jahrhundert, auf einen Raum und eine Epoche also, die durch eine unverkennbare Aneignung - so Majocchi - kaiserlicher und königlicher "Begräbnisprivilegien" seitens des neuen städtischen Adels zu charakterisieren seien. Aufbauend auf den Distinktionsbegriff von Pierre Bourdieu wirft der Verfasser deshalb immer wieder die Frage auf, inwiefern Änderungen von Begräbnispraktiken auch als Zeichen sich wandelnder politischer Ansprüche auf Seiten der aristokratischen Oberschichten zu deuten seien.

Das erste Kapitel (11-39) bietet eine Überblicksdarstellung über die königlichen und aristokratischen Begräbnisrituale vom 6. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. Von einer harmonischen und linearen Entwicklung kann hierbei allerdings nicht die Rede sein: Obwohl Trauerfeiern über den ganzen Zeitraum hinweg den Familien des Verstorbenen einen Anlass boten, die eigene soziale Stellung neu auszuhandeln (27), kam es erst im ottonischen und salischen Zeitalter zu einer Konsolidierung der königlichen und aristokratischen Begräbnisrituale, die sich unter anderem in der Auswahl eines dauerhaften Bestattungsortes für die jeweiligen Dynastien niederschlug (30-32). Vor allem aufgrund der bedeutsamen Rolle der Städte zeichnete sich laut Verfasser im Regnum Italicum eine im Vergleich zu Deutschland und Frankreich andere Entwicklung ab, so dass nur wenige südalpine Adelsfamilien in der Lage waren, sich königliche Modelle zu eigen zu machen (32-39).

Im zweiten Kapitel (41-86) wird überblicksartig die von der französischen Forschung postulierte "Wende" des 13. Jahrhunderts geschildert, die zum einen zu einem Aufschwung der materiellen und ideologischen Investitionen in Begräbnispraktiken (41-48) und zum anderen zu einer stärkeren Rezeption königlicher Rituale beim städtischen Adel in Oberitalien führte (57-76). Zu den Faktoren, die diesen epochalen Wandel beschleunigten, zählt der Verfasser den Erfolg der Bettelorden als Testatoren, Anbieter von Begräbnisplätzen und neue Verwalter der aristokratischen Memoria sowie "die Einführung des Fegefeuer-Dogmas durch die römische Kurie" (!), die zu einer Explosion der Praxis der Gedenkgottesdienste führte (41-43). Die Durchsetzung der ersten regionalen Signorie ging Hand in Hand mit einer Neuentdeckung der vermeintlich königlichen Vergangenheit einzelner Städte und Dynastien (76-86), während der Abgrenzungsanspruch der neuen Führungsschichten vor allem in den städtischen Sittenmandaten (leggi suntuarie) zum Ausdruck kam, in denen auch die "Privilegien" des Adels im Bereich der Begräbnispraktiken reglementiert wurden (50-56).

Im dritten Kapitel (86-133) wird die allgemeine Entwicklung am Beispiel Veronas näher erläutert: Im Mittelpunkt eines ersten Abschnittes steht die von der Signoria der Scaliger ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts geförderte Wiederentdeckung der imperialen Vergangenheit der Stadt (87-98). Im Anschluss daran richtet der Verfasser den Blick auf die Legitimationsstrategien der Dynastie und geht dabei auf die Kirchen- und Ehepolitik, Bautätigkeit, Onomastik sowie auf die Veranstaltung ritterlicher Turniere als Momente herrschaftlicher Inszenierung ein (98-118). Das dritte Unterkapitel behandelt abschließend die gezielte Übernahme königlicher Begräbnisrituale und schenkt besondere Aufmerksamkeit der Verwendung importierter Seiden als Grabbeigaben, durch die der fast königliche Status des Adelsgeschlechtes zur Schau gestellt wurde (118-133).

Im vierten und letzten Kapitel (134-167) wird erneut ein auf die longe durée hin ausgerichteter Ansatz dominierend, indem der Verfasser einen Überblick über die Zusammensetzung aristokratischer Grabbeigaben vom Frühmittelalter bis zum konfessionellen Zeitalter liefert. Der Band wird durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis (169-205) und ein Namen- und Ortsregister (207-220) abgeschlossen.

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Überzeugend sind vor allem die Deutung der Begräbnisrituale als Mittel sozialer Distinktion, die Erarbeitung einer Periodisierung der Begräbnispraktiken sowie die Fallstudie Veronas. Das erste und zweite Kapitel wirken aber ziemlich unsystematisch - was vor allem mit ihrer nichtlinearen Struktur zusammenhängt, die sich in etlichen Wiederholungen niederschlägt. Der Verfasser scheint zudem nur zum Teil die Forschungsansätze der letzten Jahrzehnte rezipiert zu haben: Die grundlegenden Studien von Joachim Wollasch, Gerhard Oexle und deren Schülern zum Stiftungswesen sowie die Monographie von Romedio Schmitz-Esser zum Leichnam im Mittelalter werden zum Beispiel nicht zitiert. Neben einigen Tippfehlern (85: nel sua attacco; 196: M Parisse) sind vor allem die inhaltlichen Ungenauigkeiten bedauerlich: Dass bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Verstetigung der liturgischen Memoria nur dem Hochadel vorbehalten geblieben sein soll (19), steht mit Befunden aus zahlreichen nekrologischen Quellen im Widerspruch; von "Erfindung" und "Einführung" des Fegefeuer-Dogmas durch die römische Kurie zu sprechen (41-43), ist nicht richtig, denn der Fegefeuerbegriff setzte sich unabhängig von einer formellen, dogmatischen Stellungnahme des Papsttums durch; bei Thomas von Celano ist nicht von einer Bestattung des heiligen Franz in S. Damiano die Rede (57), sondern nur von einer zeitweiligen depositio. Bei vielen Aussagen scheint darüber hinaus die Frage nach dem Verhältnis von Quellenbefund und Überlieferungslage nicht in angemessenem Maße berücksichtigt worden zu sein.

Trotz der überzeugenden Gesamtdeutung der Begräbnispraktiken und der informationsreichen Untersuchung zu den Scaligern bleibt am Ende der Lektüre das Gefühl, dass die Kombination von longe durée und repräsentativer case-study nicht eine tatsächlich schlüssige Synthese hervorgebracht hat und das Potenzial des Themas größtenteils unausgeschöpft bleibt.

Étienne Doublier