František Šmahel: The Parisian Summit, 1377-78. Emperor Charles IV and King Charles V of France, Praha: Karolinum 2014, 480 S., 171 Abb., ISBN 978-80-246-2522-5, USD 45,00
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František Šmahel, der Doyen der tschechischen Mediävistik, ist in Deutschland vor allem als Historiker der Hussitischen Revolution, aber auch als Spezialist für Universitätsgeschichte bekannt. Dass er sich zeitlebens für Karl IV. als dominante Figur der böhmischen Geschichte des 14. Jahrhunderts interessiert hat, wird dem breiten Publikum spätestens mit der vorliegenden Monografie ins Bewusstsein gerufen, die in tschechischer Sprache bereits 2006 erschienen ist. [1] Die 2014 veröffentlichte englische Übersetzung ist treffender betitelt als das Original. Tatsächlich steht ein spätmittelalterliches 'Gipfeltreffen' im Mittelpunkt, der Besuch Karls IV. und seines Sohnes Wenzel bei König Charles V von Frankreich im Winter 1377/78.
Doch eigentlich unternimmt Šmahel weit mehr als die überfällige Detailanalyse dieser beispiellos dicht überlieferten Begegnung: Er betrachtet die Figuren von kaiserlichem Onkel und königlichem Neffen über viele Jahrzehnte parallel. Der Doppelblick fällt auf die Kindheit der beiden "Karle" - die frühen Jahre des jungen Wenzel in Böhmen (bis 1322) und Frankreich (ab 1323) lagen so stimmig kontextualisiert (1-50) bisher nicht vor. Erhellend ist auch die Einbettung in die kurze Herrschaft Charles IV und die Anfänge des Hundertjährigen Krieges bis Crécy 1346. Wesentlich knapper fällt die Skizze zu Charles V aus, die zugleich nach der Rolle der Dauphiné fragt (50-61). Konsequent widmet sich das zweite Kapitel dem Hoftag von Metz, der Erstbegegnung der Protagonisten (62-82). Zwischengeschaltete Elemente geben Überblicke über das politische System des Reichs (65f.) oder, ein Kernthema des Buchs, über das Verhältnis zwischen dem Reich und Frankreich (73-75). Gerade zu Metz lenkt Šmahel den Blick auf Details, die bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, wie z.B. die höchst aufwändige Ausstattung der französischen Delegation (76-77). Dem folgt ein Abriss der ersten Jahre (1357-1364) Charles' V als Stellvertreter des Königs (83-100), gekennzeichnet durch die Krise der Jacquerie 1358, das Wiederaufflammen der Kriegshandlungen und den Frieden von Brétigny 1360, sowie die Gefangenschaft und schließliche Rückkehr König Jeans II aus England. Nach dessen Tod 1363 betritt Charles V dann endgültig als König die Bühne (101-131). Handbuchcharakter hat der Überblick über die Regierung des Valois, den Verlauf des Kriegs, das intellektuelle Umfeld Charles V, die Ausgestaltung Paris' und der Sainte Chapelle. So schafft Šmahel den Hintergrund für die Einordnung des Kaiserbesuchs.
Mit diesem französischen Panorama vergleicht der Autor nun den böhmischen Befund: Ein großes Kapitel (131-185) präsentiert meist bekannte Fakten zur Umgestaltung Prags zur Kaiserresidenz (Neubau von Burg und Veitsdom; Karlsbrücke; Gründung der Neustadt), aber auch die fundamentale Rolle der Universitätsgründung 1348 sowie die personale Verbindung von böhmischen Klerikern mit Paris und Avignon. Sehr erhellend sind Šmahels Ausführungen zur personalen Zusammensetzung der frühen Prager Universität (144-146). Auf etablierter Forschung basieren Aussagen zur 'Reichsverfassung' unter Karl IV. und zum Aufbau der Länder der böhmischen Krone, auch karolinische Krönungsrituale, Festkultur und Herrschereinzüge fehlen nicht. Ausführlich und überleitend zum eigentlichen 'Gipfel' von Paris werden verschiedene Herrschertreffen Karls IV. mit Nachbarn und Konkurrenten inner- und außerhalb des Reichs beschrieben (163-170). Die unmittelbare Lage vor der Entscheidung des alternden Kaisers, nach Paris zu ziehen, skizziert der Autor v.a. im Kontext der Diskussion von Erbfolge- und Bündnisfragen, Beratungen über das Schisma, aber auch ein starkes spirituelles Interesse an Reliquienverehrung und Wallfahrt wird attestiert (170-176). Mit in vielen Aspekten bisher nie erreichter Präzision wird dann die Anreise nach Paris rekonstruiert (177-184). Elegant reicht Šmahel dann den Staffelstab des Erzählers weiter an Pierre d'Orgemont und fügt eine lange Übersetzung der entsprechenden Kapitel aus den Grandes Chroniques de France ein, die das Herzstück der Überlieferung zum kaiserlichen Besuch bilden (185-235).
Die eigentliche Analyse und Interpretation des chronikalischen Berichts erfolgt in einem Nachwort (237-264) und 15 Exkursen (265-411). Im Epilog wird die krisenhafte Zuspitzung von Schisma und Krieg in der verbleibenden Lebenszeit beider Herrscher bis zu deren jeweiligem Tod 1378/1380 skizziert. Ob eine Zusammenfassung zum Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas und seiner Rezeption in Paris (246-251) hier wirklich zwingend ist, sei dahingestellt. Gleiches gilt für die Darstellung der Beziehungen Wenzels IV. zu Frankreich noch deutlich über den Tod Charles' V hinaus (254-263). Ein internationaler Literaturüberblick und Resümee zum Forschungsstand (268-271) leitet die Exkurse ein, wobei zuerst Autorschaft, Überlieferung und Rezeption (272-276) der Hauptquelle im Mittelpunkt stehen. Danach geraten die Illustrationen und ihre Urheber in den Blick (277-282). Die sakral wie rechtlich herausgehobene Rolle des französischen Königs (283-294) findet ebenso Beachtung wie der Aufbau des französischen Königshofes und die weitere Verwaltung des Königreichs (295-308). Der zeremonielle Einritt wird in allen Details (309-320), inklusive der Reittiere (321-328), Kleidung und Farben (329-336) analysiert. Vor dem Leser wird nicht nur ein beeindruckendes Panorama entfaltet, sondern intensive Interpretationsarbeit geleistet.
Nicht weniger instruktiv sind die Ausführungen zur Topografie Paris' und den Unterkünften für die Besucher (337-355), zur zeremoniellen (356-367) und musikalischen (383-389) Ausgestaltung der Mahlzeiten bis hin zum Geschirr (368-377) und der Speisenfolge (378-382), die an zwei Beispielen sogar zum Nachkochen auffordert (379, Abb. 159-160). Abschließend untersucht Šmahel die weltlichen (390-397) und sakralen (407) Geschenke, keineswegs nur Bücher, Preziosen und Reliquien, die anlässlich des Besuches die Besitzer wechselten, um schließlich noch einmal die Gesamtkosten (408-418) sehr quellennah zu reflektieren. Ein kombiniertes Personen- und Ortsregister beschließt den Band.
Auf den ersten Blick fällt auf, wie opulent die Monografie bebildert ist: Die teilweise großformatigen Reproduktionen aus den Grandes Chroniques sind alles andere als Illustrationen; sie werden intensiv diskutiert und interpretiert. Sprachlich ansprechend tritt einem der Autor als charakteristischer, doch unaufdringlicher Erzähler entgegen (z.B. 27), der gelegentlich sogar persönliche Erfahrungen mit Tafelgeschirr mittelalterlicher Anmutung einzuflechten versteht (376). Die Übersetzung kann als gelungen bezeichnet werden, wenn auch tschechisch-englisch-französische Namensvarianten manchmal Verwirrung stiften: Těma of Kolditz (153) versus Thymo of Kolditz (177, 255); hinter Quido VII (51) verbirgt sich der aus der Vita Caroli bekannte Dauphin Guigues / Guido von Vienne. Kleine Fehler in der Sache muss man mit der Lupe suchen; festzustellen ist, dass die Bibliografie im Vergleich zur tschechischen Erstauflage nur teilweise aktualisiert wurde; nicht immer ist die seit dem Jahrtausendwechsel bis 2014 erschienene (deutschsprachige) Spezialforschung komplett erfasst oder gar in den Fußnoten auffindbar. Überhaupt sind manche Kapitel recht sparsam mit Anmerkungen versehen (z.B. 19-25, 101-110); hier war wohl zwischen Lesbarkeit und Ästhetik abzuwägen. Auch einige Anmerkungen direkt zur Übersetzung hätten geholfen, diese reflektierter zu nutzen.
Doch bedenkt man, wie wenig Redundanzen auftreten - nur in den letzten Exkursen doppeln sich Informationen - und in welcher Tiefenschärfe der Leser informiert wird, dann bleiben solche Einwände von geringem Belang. Gerade nach den fast schon ausufernden Feierlichkeiten zum 700. Geburtstag Karls IV. im vergangenen Jahr, den zahlreichen Ausstellungen und Publikationen, ist es gut, mit Šmahel den Luxemburgern auf ihrer Reise nach Westen zu folgen. Dabei erfahren wir, der Quellenlage geschuldet, zwar mehr über die Gastgeber als über die Gäste, doch gerade dieser Perspektivwechsel tut gut: Selbst in Jahren äußerster Krisen und Bedrängung entfaltete der französische Hof in Paris eine Pracht und leistete sich eine elaborierte Verwaltung, von der man östlich des Rheins nach wie vor und trotz der karolinischen Blüte beeindruckt sein konnte.
Šmahels Alterswerk, wenn man es so (vielleicht vorschnell) nennen will, bietet aber mehr als einen Blick in den bunten Herbst des Mittelalters. Es macht große Lust darauf, die Verflechtungen und Transferprozesse herrscherlicher Repräsentation und höfischer Kultur zwischen Ost und West noch genauer zu untersuchen.
Anmerkung:
[1] František Šmahel: Cesta Karla IV. do Francie. 1377-1378 [Die Reise Karls IV. nach Frankreich. 1377-1378], Praha 2006.
Martin Bauch