Bernd Florath (Hg.): Annäherungen an Robert Havemann. Biographische Studien und Dokumente (= Analysen und Dokumente; Bd. 43), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 668 S., 67 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-35117-8, EUR 50,00
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Trotz der umfänglichen Literatur über den wohl prominentesten Dissidenten in der DDR gibt es bislang über Robert Havemann noch immer keine umfassende Biographie, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird. Zumeist stehen die von Havemann prononciert formulierte Kritik des Gesellschaftssystems der DDR, seine von ihm entwickelten Sozialismuskonzeptionen sowie seine politischen und ökologischen Utopien im Fokus ideengeschichtlicher Untersuchungen. Bernd Florath rückt nun in dem von ihm herausgegebenen Sammelband jene Lebensabschnitte Havemanns in den Mittelpunkt, die einerseits seine Persönlichkeit ganz wesentlich prägten und in denen er andererseits auf sein persönliches Umfeld stark einwirkte. Insofern ist es Florath durchaus gelungen, wissenschaftliche Analyse und die persönlich gefärbte Erinnerung von Zeitzeugen über Havemann zu einem komplexen Bild seines Wirkens als Kommunist, Naturwissenschaftler und einer der zentralen Köpfe der Opposition in der DDR zu vereinen.
Der Band beschäftigt sich zunächst mit dem komplizierten Weg des Wissenschaftlers Havemann zum politisch wirkenden Kommunisten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Harold Hurwitz), dem wissenschaftlichen Wert seiner bis in die Gegenwart hinein mystifizierten Forschungen während der Haftzeit im Zuchthaus Brandenburg/Görden (Hans-Georg Bartel) sowie den politischen Orientierungsproblemen Havemanns nach seiner Befreiung aus der Todeszelle Ende April 1945 (Bernd Florath). In seiner Studie über die inoffizielle Zusammenarbeit Havemanns mit sowjetischen und ostdeutschen Geheimdiensten kann Arno Polzin zeigen, in welchem Zeitraum Havemann als Geheimer Informant (GI) "Leitz" dem MfS u.a. persönlich gefärbte Informationen zu ost- und westdeutschen Intellektuellen lieferte. Allerdings bleiben die Motive Havemanns, sich für unterschiedliche kommunistische Geheimdienste zur Verfügung zu stellen, in dieser Studie weitgehend ungeklärt. Die Zusammenarbeit mit dem MfS brach den Recherchen Polzins zufolge in den 1960er Jahren ab, nachdem Havemanns Kritik der SED-Politik zu heftigen politischen Auseinandersetzungen mit Leitungs- und Parteigremien der Berliner Humboldt-Universität geführt hatte. Insofern entsprach es durchaus einer gewissen Logik, wenn aus dem GI "Leitz" der Operative Vorgang (OV) "Leitz" wurde und das MfS, wie Angela Schmole schildert, seit den 1970er Jahren versuchte, Havemann lückenlos zu überwachen und durch Hausarrest von Kontakten zur Außenwelt abzuschneiden. Dem folgten Versuche, seinen öffentlichen Ruf als Wissenschaftler zu diskreditieren sowie sein Prestige als marxistischer Kritiker des in der DDR herrschenden Gesellschaftssystems mit Hilfe unwahrer Angaben über sein Verhalten während der NS-Zeit auch im Westen zu untergraben.
Anschließend wird das persönliche Umfeld Havemanns beschrieben. Jean-Pierre Hammer erinnert sich an seinen Freund Havemann als den "denkenden Geist der DDR-Opposition" (131) und schildert anhand von Dokumenten und eigenen Erinnerungen das Bemühen, die vom MfS verfügte Isolation Havemanns zu durchbrechen. Die Beiträge von Andreas Schmidt, Christian Booß und Bernd Markowsky zeigen, wie wichtig oppositionelle Mitstreiter für die Rolle Havemanns als eigenwilliger Dissident und die Rezeption seiner politischen und philosophischen Anschauungen gewesen sind.
Danach untersucht der Band die eher bekannten politischen und philosophischen Anschauungen Havemanns, fordert aber auch zu neuen Fragen heraus, die sich auf das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Philosophie beziehen. Für Christian Sachse wird die ursprüngliche Idee Havemanns, moderne Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, auch als Paradigma für geschichtsphilosophische Betrachtungen zu nutzen, in der Rezeption von Havemanns weltanschaulichen Ansätzen noch immer unterschätzt. Reinhard Buthmann veranschaulicht, auf welche provokante Weise Havemann die dogmatische Erstarrung der marxistischen Philosophie offen zur Sprache brachte und als Rechtfertigungslehre des stalinistischen Herrschaftssystems bloßstellte. Guntolf Herzberg vergleicht die politischen und philosophischen Anschauungen Havemanns und Bahros und arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Christian Halbrock fragt nach dem Verhältnis Havemanns zur Kirche und analysiert sein äußerst widersprüchliches Verhältnis zu Menschen mit christlichem Glauben bzw. sein politisches Engagement in seiner Funktion als Prorektor für Studentenangelegenheiten der Berliner Humboldt-Universität gegen Mitglieder der "Jungen Gemeinde".
Im Anschluss daran beschreiben mehrere Autoren (Bernd Florath, Ilko-Sascha Kowalczuk, Hubert Laitko, Manfred Wilke, Christian Halbrock, Wolfgang Templin) Havemann als zentrale Figur der DDR-Opposition und ordnen sein weltanschauliches Grundverständnis und seine Ideen in sein politisches sowie persönliches Umfeld ein. Indem Havemann eben nicht nur als Einzelphänomen der DDR-Opposition behandelt, sondern in die Entwicklung der ihn umgebenden Welt eingebettet wird, kann überzeugend herausgearbeitet werden, unter welchen politischen Bedingungen oppositionelles Denken in der DDR entstehen konnte und welche Bedeutung die öffentlichen Stellungnahmen prominenter Dissidenten für die Geschichte der politischen Opposition in der DDR tatsächlich hatten.
Am Ende des Bandes werden autobiographische Aufzeichnungen aus dem Nachlass Havemanns präsentiert, die das MfS 1969 während einer Hausdurchsuchung beschlagnahmte und offenbar als Teil von Havemanns Memoiren konzipiert waren. Es folgen dann noch Ergänzungen zur 2007 publizierten Havemann-Bibliographie und deren Fortführung mit Veröffentlichungen bis 2012.
Mit dem Titel "Annäherung an Robert Havemann" hat der Herausgeber eine zutreffende Formulierung gewählt, denn die Biographie dieses prominenten Kritikers des Gesellschaftssystems der DDR gibt uns immer noch Rätsel auf. Auch die in diesem Band vereinten Studien zu seiner Biographie und seinem politisch-philosophischen Werdegang können die zahlreichen Widersprüche und Ambivalenzen im Leben von Havemann nicht ganz auflösen. Das betrifft vor allem die Hintergründe und Motive seiner politischen Wandlung vom angeblichen Verehrer Stalins und dessen Ideen zum entschiedenen und mutigen Regimegegner sowie einer der Köpfe der politischen Opposition in der DDR. Schon Harold Hurwitz hat darauf aufmerksam gemacht, dass Havemann sowohl in der Widerstandsgruppe "Neu Beginnen" als auch in den politischen Debatten in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs als Vertreter stalinistischer Auffassungen auftrat, wie dies Havemann selbst in autobiographischen Schriften später darstellte. [1] So provoziert seine autobiographische Version, er sei Stalinist gewesen, der als Marxist und Leninist schließlich die stalinistischen Systemfehler im sowjetischen Gesellschaftsmodell erkannt habe, noch immer Fragen nach den Hintergründen seiner biographischen Selbstdarstellung. Insofern gibt es weiteren Forschungsbedarf. Der von Bernd Florath herausgegebene und außerordentlich verdienstvolle Band gibt indes Anlass zur Hoffnung, dass eine Biographie über Havemann, die biographische Widersprüche, Ambivalenzen und Verstrickungen in die Diktatur differenziert analysiert, durchaus geschrieben werden kann.
Anmerkung:
[1] Harold Hurwitz: Robert Havemann. Eine persönlich-politische Biographie. Teil I. Die Anfänge, Berlin 2012.
Andreas Malycha