Tim Geiger / Jürgen Lillteicher / Hermann Wentker (Hgg.): Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 123), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, VI + 251 S., ISBN 978-3-11-072790-6, EUR 24,95
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Der von Tim Geiger, Jürgen Lillteicher und Hermann Wentker herausgegebene Sammelband mit dem Titel Zwei plus Vier geht auf eine anlässlich des 30. Jahrestags der deutschen Einheit durchgeführte Tagung zurück. Er verfolgt ausdrücklich das Ziel, über nationale Perspektiven und internationale Reaktionen auf den Einigungsprozess sowie die Zäsur 1990 hinauszugehen und die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik zu beleuchten. Bei einigen Aspekten betritt die Publikation Neuland, bei anderen leistet sie einen konzisen Überblick zu bereits eingehender erforschten Themen.
Eröffnet wird der Band mit einer Sektion zu den internationalen Rahmenbedingungen der deutschen Einheit. Hélène Miard-Delacroix zeichnet in ihrem Beitrag ein globales Panorama der internationalen Beziehungen am Ende des Kalten Kriegs. Nach diesem mutigen Einstieg skizziert Helmut Altrichter gewohnt souverän die Haltung der Sowjetunion zur Auflösung des Warschauer Pakts. Mary Elise Sarotte stellt in ihrem Aufsatz die Frage nach dem deutsch-amerikanischen "Führungsduo" und weist auf Differenzen hinsichtlich der NATO-Osterweiterung hin. Darüber kann man sich in größerem Detail in anderen Publikationen der Autorin informieren. [1] Der erste Abschnitt bietet neue Perspektiven, aber für ein Fachpublikum inhaltlich wenig Neues.
Der zweite Teil des Bandes nimmt "Hypotheken der Vergangenheit" in den Blick und zeigt, wie sehr die Nachwirkungen der NS-Zeit die Stellung Deutschlands auch über den Kalten Krieg hinaus (mit)prägen. Jürgen Lillteicher bietet einen fundierten Überblick zum Thema "Reparationen". Die "bundesdeutsche Politik einer Reparationsvermeidung" war zwar erfolgreich, jedoch enthob sie das Land nicht seiner "moralischen und damit auch monetären Verpflichtungen gegenüber NS-Opfern" (86) und scheint eine bis in die Gegenwart fortgesetzte Debatte zu Entschädigungsforderungen zur Folge zu haben - zuletzt seitens Griechenlands und Polens. Heike Amos analysiert in ihrem Beitrag kenntnisreich die Frage der Oder-Neiße-Grenze im Kontext des Einigungsprozesses - ein Problem, das 1989/90 zwar heiß debattiert wurde, schließlich aber konsensual ad acta gelegt werden konnte. Im letzten Aufsatz der Sektion räumen Andreas Zimmermann und Jan Eiken mit persistenten Mythen zur vermeintlich beschränkten Souveränität Deutschlands auf und halten abschließend fest, dass "das vereinte Deutschland heute tatsächlich volle Souveränität genießt" und "von einem Fortbestand alliierten Besatzungsrechts" "nicht mehr auszugehen" ist (122).
Der dritte Teil unter dem Titel "Ordnungsentwürfe für die Gegenwart" widmet sich zentralen Verhandlungsprozessen der Umbruchsjahre und bietet auch der ostmitteleuropäischen Perspektive Raum. Hermann Wentker macht in seinem Beitrag deutlich, dass die KSZE zwar am Ende des Kalten Kriegs und während des deutschen Einigungsprozesses einen "Ordnungsfaktor" darstellte, der jedoch rasch an Bedeutung verlor. Sein Fazit "Die KSZE war letztlich ohne bipolare Welt nicht denkbar" (141) erweist sich mit Blick auf die weitere Entwicklung und gegenwärtige Stellung der OSZE als treffend. Tim Geiger betont in seinem Aufsatz die zentrale Bedeutung der Fortschritte im Bereich der Abrüstung für das Ende des Kalten Kriegs und das Gelingen der deutschen Einheit. Das damalige Verständnis von gemeinsamer Sicherheit ist seither wieder erodiert. Wanda Jarząbek leistet eine Synthese zur Position ostmitteleuropäischer Staaten (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei), die sich vom Warschauer Pakt ab- und der EU und NATO zuwandten. Die Westintegration sollte diese Länder "vor einem erneuten Abrutschen in die russische Einflussspähre bewahren" (177) und ihnen wirtschaftlichen Fortschritt bringen. Dabei wurden die supranationalen Elemente der europäischen Integration offensichtlich ausgeblendet, die in weiterer Folge von späteren Regierungen dieser Staaten als Beschränkungen der nationalen Souveränität wahrgenommen wurden.
Abgeschlossen wird der Band mit einer Sektion zu "Bildern von Deutschland seit 1990". Recht klassisch stehen hier die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Fokus, wobei der auf der Konferenz vertretene Beitrag zu Frankreich im Band leider entfallen musste. Dominik Geppert nähert sich dem britischen Deutschlandbild durch die Linse der Memoiren der Premierminister von Margreth Thatcher bis David Cameron an. Er konstatiert "Frustration" als "vorherrschende Emotion" (196) der britischen Regierungschefs im Umgang mit der deutschen Politik - von der Einheit bis zum Brexit. Konrad Jarausch bietet in seinem Essay zu den USA eine knappe Synthese, die bis zum Irakkrieg reicht und spricht von der "Erosion einer Freundschaft". Die auf die Zukunft bezogene Hoffnung, "dass beide Seiten aus den Enttäuschungen der Vergangenheit gelernt haben, dass sie trotz mancher Meinungsunterschiede auch in Zukunft aufeinander angewiesen sind" (240), scheint sich angesichts der düsteren Gegenwart des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zu erfüllen. [2] Wer etwas genauer hinsah, dem blieben die graduellen Umdeutungen historischer Fakten im postsowjetischen Russland nicht verborgen. Wolfgang Mueller unterzieht die vielfältigen Geschichtsbilder zur deutschen Einheit von 1990 bis 2020 einer detaillierten Mehrebenenanalyse und arbeitet Etappen des keineswegs geradlinigen Wandels russischer Sichtweisen heraus. Wenig überraschend zeigt sich im vergangenen Jahrzehnt vor dem Hintergrund einer konfrontativer werdenden Haltung gegenüber dem Westen eine zunehmende Emotionalisierung. Muellers - mit Blick auf die knappe aber relativ objektive Darstellung der deutschen Einheit in russischen Schulbüchern - abschließend geäußerte "vorsichtige Hoffnung, dass eine künftige Generation in Russland die Frage weniger emotional beurteilen können wird" (228) dürfte sich wohl nicht so bald erfüllen.
Alle Beiträge des verdienstvollen Bandes verhandeln zentrale internationale Aspekte der Gründungsgeschichte der Berliner Republik in fachkundiger und zugleich allgemein verständlicher Weise. Der Blick auf Deutschland seit der Einheit ist ein zusätzlicher gewichtiger Gewinn. Für eine die 1990er-Jahre immer stärker auch quellengestützt in den Blick nehmende Zeitgeschichtsforschung stellt der Band einen guten Einstieg dar. Da wir seit dem 24. Februar 2022 eine "Zeitenwende" erleben, wird sich die Debatte über die am Ende des Kalten Krieges entstandene internationale Ordnung unter veränderten Vorzeichen und mit neuen Fragestellungen weiter intensivieren. Indem sie das permanente Ineinandergreifen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Wendejahren deutlich macht, leistet die Publikationen einen bei ihrer Entstehung wohl kaum intendierten Beitrag, der in der gegenwärtigen Lage nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Anmerkungen:
[1] Mary Elise Sarotte: 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009 (sowie die überarbeitete und mit einem neuen Nachwort versehene Auflage 2014); Mary Elise Sarotte: Not One Inch. America, Russia, and the Making of the Post-Cold War Stalemate, New Haven / London 2021.
[2] Für eine rezente Analyse die den Dualismus von Meinungsverschiedenheiten und gegenseitiger Angewiesenheit als Normalzustand des trotz gegenteiliger Wahrnehmungen überwiegend prosperierenden transatlantischen Verhältnisses (in dem den deutsch-amerikanischen Beziehungen eine bedeutende Rolle zukommt) herausarbeitet siehe Jussi M. Hanhimäki: Pax Transatlantica. America and Europe in the Post-Cold War Era, Oxford 2021.
Maximilian Graf