Rezension über:

Anthony Downey (ed.): Future Imperfect. Contemporary Art Practices and Cultural Institutions in the Middle East (= Visual Culture in the Middle East; 3), Berlin: Sternberg Press 2016, 430 S., 91 Farb-, 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-95679-246-5, EUR 25,00
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Rezension von:
Verena Straub
Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Kerstin Schankweiler
Empfohlene Zitierweise:
Verena Straub: Rezension von: Anthony Downey (ed.): Future Imperfect. Contemporary Art Practices and Cultural Institutions in the Middle East, Berlin: Sternberg Press 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30087.html


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Anthony Downey (ed.): Future Imperfect

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Der Sammelband Future Imperfect. Contemporary Art Practices and Cultural Institutions in the Middle East beginnt mit einer eher düsteren Bestandsaufnahme der institutionellen Kulturlandschaft im Nahen Osten. In seiner Einleitung wählt Herausgeber Anthony Downey deutliche Worte: "there is a de facto campaign, based on mistrust and a fundamental lack of foresight, currently being waged on cultural institutions across the Middle East [...]." (15) Die schleichende Erosion der Rechte von Kulturschaffenden in den post-revolutionären Ländern der MENA-Region ist aktuell nicht zu übersehen. Sowohl öffentliche Museen, als auch private Galerien, Stiftungen, das Publikationswesen und kulturelle Bildungseinrichtungen, aber auch die Rede- und Versammlungsfreiheit allgemein sind vielerorts unter Druck und diversen Angriffen von Seiten der politischen Machthaber ausgeliefert. Angesichts dieser besorgniserregenden Situation liegt die Dringlichkeit und Relevanz eines Sammelbandes wie Future Imperfect auf der Hand.

Trotz der desillusionierenden Töne zu Beginn, geht es den Autoren und Autorinnen jedoch nicht ausschließlich darum, prekäre Ist-Zustände zu beschreiben. Neben und trotz der Kritik an einer teils jahrzehntelangen desaströsen Kulturpolitik, politischen Repressionen oder Neoliberalisierungsprozessen, versammelt der Band auch diverse Positivbeispiele für alternative (gegen-)institutionelle Bestrebungen. Dazu zählt etwa die Arbeit von Ashkal Alwan in Beirut (Beiträge von Rachel Dedman, Christine Tohme und Gregory Sholette), Sada in Bagdad (Beitrag von Rijin Sahakian), Townhouse Gallery in Kairo (Beiträge von William Wells und Anja Szremski) oder PiST/// in Istanbul (Beitrag von Eray Çaylı), aber auch temporäre Projekte wie das palästinensische Kunstfestival Qalandiya International (Beitrag von Reema Salha Fadda). Die Dialektik zwischen Krise und Aufbruch, sowie die Frage, wie aus den politisch angespannten Situationen neue Infrastrukturen für die Künste entstehen können, bilden den zentralen Bezugsrahmen für die Publikation.

Allein der Umfang des ambitionierten Projekts (die über 400 Seiten starke Printversion zählt 27 Beiträge, hinzu kommen 7 Online-Artikel auf http://www.ibraaz.org/), verdeutlicht die Vielfalt und Heterogenität der Themen, die hier angesprochen werden. Ähnlich breit gefächert sind die regionalen Kontexte, auf die sich die einzelnen Beiträge beziehen. Besprochen werden Fallbeispiele aus Libyen, Marokko, Algerien, Tunesien, Jemen, Irak, Palästina, Libanon, Jordanien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, sowie der Türkei und Syrien. Trotz dieses auf den ersten Blick unüberschaubar wirkenden Panoramas gelingt es dem Herausgeber Anthony Downey, eine schlüssige Vierteilung vorzunehmen.

Die erste Sektion schafft die Grundlagen für den von Downey angestrebten "condition report" (17). Unter der Überschrift "Regional Contexts" werden Texte versammelt, die die politischen und ökonomischen Realitäten einzelner Institutionen in den Blick nehmen. Rijin Sahakian, Leiterin der gemeinnützigen Bagdader Organisation Sada, weist auf eine paradoxe Dynamik hin, die man im Irak, aber auch in anderen Ländern des Nahen Ostens beobachten kann: Dieselben Leute, die das Land in die tiefe Krise gestürzt haben und die lokale Kunst- und Intellektuellenszene strategisch unterdrückten, profitieren nun von der kulturellen Produktion, die aus diesen miserablen Zuständen hervorgegangen ist (120). Bestehende Institutionen wie Sada sehen sich entweder gezwungen, mit den Geldgebern zu kooperieren, die für ihre prekäre Lage eigentlich verantwortlich sind, oder werden abgeschafft und von neuen Mega-Museen abgelöst. Obwohl sich nach den Ereignissen des sogenannten Arabischen Frühlings ein regelrechter "Arab turn" in der Kunstwelt abzeichnete, der dazu führte, dass Künstler und Künstlerinnen aus der MENA-Region mehr internationale Aufmerksamkeit erhielten, änderte sich an den tatsächlichen Restriktionen ihrer Arbeit nichts - so der Tenor vieler Beiträge dieser Sektion (zum Beispiel Reema Salha Fadda mit Blick auf Palästina). Wer profitiert letztlich von einer Kunst, die im Kontext von Krieg und Konflikt entstanden ist? Damit wird eine Frage angestoßen, die weit über den regionalen Kontext hinausgeht und sich ebenso an Institutionen in Europa oder Nordamerika richtet, die 'Kunst aus Konfliktzonen' ausstellen und daraus ökonomisches, aber auch politisches und soziales Kapital generieren.

Mit der zweiten Sektion "Informal Methods and Formal Critique" richtet sich der Blick von den Realitäten der Gegenwart auf die Visionen der Zukunft - wenngleich diese notwendigerweise "imperfekt" bleiben müssen, so der selbstkritische Titel der Publikation. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Institutionen von künstlerischen Praktiken "lernen" können, insbesondere von der seit den 1960er-Jahren praktizierten Institutionskritik (27). Der Beiruter Kunstraum Ashkal Alwan wird als "Gegen-Institution" präsentiert, die eine selbst-reflexive Praxis über ihre eigene Relevanz und die Frage, was eine Institution sein kann, zum Kern ihres Selbstverständnisses gemacht hat (Beiträge von Rachel Dedman, Christine Tohme und Gregory Sholette). Um eine Institution von innen heraus dekonstruieren zu können, müssen aber bereits grundlegende Voraussetzungen gegeben sein. Unter den Bedingungen der Besatzung kann allein das Entwickeln von Museen als Geste des Widerstands verstanden werden, so erinnert der Bericht über das Abu Jihad Museum in Palästina (Beitrag von Doreen Mende, Baha Jubeh und Suhair Jubeh). 'Institutionskritik' muss im Kontext politischer Repressionen radikal anders gedacht werden - das legen viele Beiträge eindrücklich dar.

Die dritte Sektion "Cultural Institutions and the Political Economy of Global Culture" bringt ein weiteres Anliegen zur Sprache, das erneut über den regionalen Kontext des Nahen Ostens hinausweist und neoliberale Prozesse der Globalisierung von Kulturinstitutionen in den Blick nimmt. Die meisten Fallbeispiele kreisen um die geplanten Mammut-Museumsprojekte wie Louvre Abu Dhabi und Guggenheim Abu Dhabi, mit denen das Emirat am Golf die künstliche Insel Saadiyat im 'Copy-und-Paste'-Verfahren in einen Kultur- und Touristenstandort verwandeln will. Mit ihrem Kunstprojekt Myth Busters suggeriert Monira Al Qadiri, dass die Megamuseen von heute das Resultat neuer politischer Allianzen sind, die sich als Folge des Irak-Kuwait-Krieges ergaben. Eine wichtige und häufig vernachlässigte historische Perspektive, die den 'Export' der Museen nicht nur durch ökonomische, sondern auch durch politische Interessen erklärt. Auch Guy Mannes-Abbotts Beitrag geht weit über die vorhersehbare (und in den Feuilletons teils überstrapazierte) Kritik an der obszönen Hybris dieser Bauprojekte hinaus, indem er gleichzeitig die Möglichkeiten zukünftiger Aneignungen dieser expansiven Stadträume mitdenkt.

Während Großinvestoren in Abu Dhabi kilometerweise Sand auftürmen und Museen von Stararchitekten wie Frank Gehry oder Jean Nouvel errichten lassen, formiert sich die kulturelle Gegenöffentlichkeit im benachbarten Königreich Saudi-Arabien in der digitalen Sphäre (Beitrag von Monira Al Qadiri auf http://www.ibraaz.org/publications/77). Das Internet als möglicher Ort alternativer Institutionen bildet den Fokus der vierten Sektion, die ausschließlich auf http://www.ibraaz.org/ veröffentlicht wurde und den prinzipiell offenen Charakter des Publikationsprojekts verdeutlicht. Hier findet sich auch ein Verzeichnis von Organisationen, die im Zuge der syrischen Revolution weltweit gegründet wurden und häufig ebenfalls ohne physische Wände auskommen (Lois Stonock, http://www.ibraaz.org/publications/74). Der Blick auf digitale Netzwerke und Online-Plattformen demonstriert, dass die Grenzen dessen was herkömmlicherweise als 'Institution' gedacht wird, heute zunehmend fluide werden.

Dem Herausgeber Anthony Downey gelingt mit diesem Sammelband eine vielschichtige und umfangreiche Bestandsaufnahme der Lage kultureller Institutionen in der MENA-Region. Offen bleibt jedoch die Frage, ob sich ähnliche Problematiken nicht auch in anderen Regionen der Welt zeigen. Gerade angesichts der globalen Verstrickungen hätte man sich in der Einleitung eine kritische Diskussion über die regionale Klammer des "Middle East" gewünscht. [1] Abgesehen davon leistet der Band einen wichtigen Beitrag für das Verständnis von Kunstinstitutionen als ökonomische, soziale und politische Akteure, die stets in konkrete geopolitische Realitäten eingebunden sind. Gerade die aufgezeigte Komplexität und Widersprüchlichkeit der institutionellen Entwicklungen, die zwischen Abbruch und Aufbau, zwischen Kritik und Kommerz changieren, machen die Stärke dieses Sammelbandes aus.


Anmerkung:

[1] Eine kritische Neubefragung der Grenzen und Terminologie des "Middle East" wurde etwa in dem von Saima Akhtar und Walid El Houri organisierten Symposium "Middle of Where, East of What? New Geographies of Conflict" angeregt, das am 14. Juli 2016 im ICI Berlin stattfand: https://www.ici-berlin.org/events/middle-of-where-east-of-what/, Zugriff am 31.07.2017.

Verena Straub