Uwe Fleckner / Maike Steinkamp / Hendrik Ziegler (Hgg.): Der Künstler in der Fremde. Migration - Reise - Exil (= Mnemosyne. Schriften des internationalen Warburg-Kollegs; Bd. 3), Berlin: De Gruyter 2015, X + 314 S., 141 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-005091-1, EUR 69,95
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Als George Grosz im April 1927 mit seiner Frau Eva und Sohn Peter nach Südfrankreich aufbrach, gab ihm sein Berliner Galerist Alfred Flechtheim diese Empfehlung mit auf den Weg: "Male Sonne, Strand, Meer, Fischer, Matrosen. Schoene Dinge u[nd] vergiss die Motzstraße [...]" (159).
Da Flechtheims finanzielle Zuwendungen den siebenmonatigen Ortswechsel zwischen der deutschen Metropole und der französischen Mittelmeerküste überhaupt erst ermöglicht hatten, war dies mehr als eine invitation au voyage, es war eine Geschäftsvereinbarung: Der Galerist versprach sich von Grosz' Aufenthalt im Süden verkäufliche Gemälde mit gefälligen Sujets, keine kontroverse Agitationskunst. Selbst dort, wo diese Künstlerreise äußerlich einem ausgedehnten Familienurlaub nahekam, lassen sich subtile Verschiebungen gegenüber klassenspezifischen Mobilitätsformen und Abweichungen von der 'Fernkontrolle' des Auftraggebers beobachten. Gegenläufig zum bürgerlichen Freizeitverhalten entwickelte der Maler an den mediterranen Erholungsorten eine beachtliche Arbeitsleistung und lieferte statt leicht konsumierbarer Côte d'Azur-Kunst hintergründige Stillleben, die ironisch mit den Bilderwartungen seines Galeristen und des Publikums spielen.
Im Wissen um das nur wenige Jahre später beginnende Exil der Familie Grosz mögen die von Flechtheim und anderen Mäzenen gesponserten Frankreich-Aufenthalte der 1920er-Jahre zu Marginalien verblassen. Doch es sind gerade diese Umschläge zwischen der gewählten und der erzwungenen Mobilität, mitsamt ihren vielfältigen, zwischen Freiheit und Notwendigkeit oszillierenden Abschattungen, die der vorliegende Band produktiv aufgreift und auf ihre Konsequenzen für die künstlerische Praxis befragt. Wie ergiebig eine solche erweiterte Perspektive auf das Mobilitätsverhalten künstlerischer Akteure sein kann, legt Gitta Ho in ihrer Fallstudie zu Grosz' Südfrankreich-Reisen (der das obige Zitat entnommen ist) dar, die damit die weitgehend auf Berlin und New York verengte kreative Topografie des Künstlers um einen bisher wenig beachteten 'dritten Raum' bereichert.
Der überwiegende Teil der hier versammelten 13 deutsch- und englischsprachigen Beiträge geht auf das 2008/2009 am Hamburger Warburg-Haus durchgeführte Kolleg mit dem Rahmenthema "Künstler in der Fremde" zurück; für die Drucklegung wurden weitere inhaltlich komplementäre Studien aufgenommen. Die nicht unbeträchtliche Distanz zwischen Konferenz und Veröffentlichung hat dazu geführt, dass der Band gleichsam verschiedene Zeithorizonte konserviert, da manche der hier präsentierten Pilotstudien in zwischenzeitlich erschienenen Monografien aufgegangen sind oder in modifizierter Form andernorts publiziert wurden. Da aber in dem nach wie vor stark expandierenden Forschungsfeld zu Formen und Funktionen künstlerischer Mobilität gerade diachron angelegte Sammelbände notwendigerweise Work-in-progress-Dokumentationen sein müssen, tut dies dem Hamburger Konferenzband keinen Abbruch. Allerdings sind Leserinnen und Leser gehalten, sich über die individuellen Forschungskontexte, in denen die Studien entstanden sind, selbstständig zu informieren, da ein Autoren- und Autorinnen-Verzeichnis, das darüber kompakt Auskunft gäbe, leider fehlt.
Im dreigliedrigen Aufbau des Buches durchdringen sich historische und systematische Zugänge zum Themenfeld Reise-Migration-Exil: Im ersten Abschnitt "In fremden Diensten" erkunden Beiträge von Evelyn Reitz, Diane Kracht und Christiane Hille für das 17. Jahrhundert die durch das fürstliche Patronage-System eröffneten künstlerischen Bewegungsräume an den Königshöfen von Prag, Neapel und London. Die zweite Sektion bietet unter der recht allgemein gehaltenen Überschrift "Reise als künstlerische Erfahrung" Analysen zu künstlerischen Mobilitätsereignissen zwischen dem späten 17. und dem späten 20. Jahrhundert, die am ehesten der heuristischen Kategorie der Künstlerreise als einer mit weitgehender Planungsautonomie ausgestalteten, zwischen Aufbruch, Aufenthalt und Rückkehr eingespannten Verlaufsform entsprechen. In diesem Abschnitt sind von Florian Dölles Auftakt-Studie zur Studienreise des Baumeisters Christoph Pitzler in den 1680er-Jahren bis zum Schlussstück von Edward A. Vasquez über die Europareisen des Minimal Art-Künstlers Fred Sandback in den 1960er-Jahren zahlreiche Epochen-, Gattungs- und Kontextwechsel zu bewältigen, die den Eindruck einer additiven Reihung an sich interessanter, aber kaum miteinander agierender Einzelstudien verstärken.
Sehr viel kohärenter strukturiert wirkt die abschließende Sektion "Zwischen den Fronten". Im Sinne einer spannungsvollen histoire croisée loten die hier versammelten Studien das kontingente Bedingungsgefüge aus, dem künstlerische Mobilitätspraktiken beim Eintritt in die von Raum-Zeit-Verdichtungen geprägte Moderne und das von Massen-Mobilisierung und -deportationen gekennzeichnete 'Zeitalter der Extreme' unterworfen gewesen sind. In der Zusammenschau belegen die Beiträge von Ulrike Boskamp zu Landschaftszeichnern unter Spionageverdacht im 19. Jahrhundert, von Maria Mileeva zu El Lissitzky als 'Kulturbotschafter' der jungen Sowjetunion in den 1920er-Jahren, von Burcu Dogramaci zu den prekären Arbeits- und Lebensbedingungen deutschsprachiger Künstler und Künstlerinnen im britischen Exil und Martin Schieders dichte Studie zur Transatlantik-Passage der frühen 1940er-Jahre als eines labil-liminalen Schwellenraums die analytische Ergiebigkeit eines engen Zusammenspiels von kunsthistorischen und mobilitätsgeschichtlichen mit raum- und migrationssoziologischen Ansätzen.
Die von Uwe Fleckner, Maike Steinkamp und Hendrik Ziegler verfasste Einleitung führt kompakt und gut strukturiert in die historischen und geografischen Schwerpunkte bisheriger kunstgeschichtlicher Mobilitätsforschung ein. Zudem wird aufgezeigt, wie eine nach wie vor stark auf individuelle Akteure zentrierte Künstlerreise-Forschung von Ansätzen der histoire croisée oder dem von Jean-Louis Cohen und Hartmut Frank skizzierten Konzept der "Interferenz" profitieren kann, das explizit Phänomene der konfliktuellen Störung und asymmetrischen Überlagerung in die historische Analyse kultureller Kontaktzonen einbezieht. Die Lesefreundlichkeit des Bandes hätte sich durchaus noch steigern lassen, wenn in der Einführung zugleich dargelegt worden wäre, wie sich Aufbau und Inhalt des Buches in konzeptueller Hinsicht zu den referierten Forschungspositionen verhalten, auch um die Navigation im nachfolgenden Archipel der Fallstudien etwas zu erleichtern. Hierbei bleiben Leser und Leserinnen indessen weitgehend auf sich selbst gestellt.
Abschließend sind zwei methodologische Irritationen anzuführen: Auch wenn das Buch gewichtige historische Gegenbeweise zum Narrativ eines die (westliche) Moderne prägenden telelogischen Gleichtakts zwischen künstlerischer Autonomie und Auto-Mobilität im Sinne zunehmender personaler Bewegungsfreiheit liefert, bleiben Einführung und Aufbau des Buches in anderer Hinsicht doch zu sehr gewissen Topoi kunsthistorischer Mobilitätsforschung verhaftet. Dies betrifft vor allem die selektive Privilegierung einzelner Akteursgruppen und Mobilitätspraktiken für bestimmte Epochenhorizonte und Kulturräume: So wird die diachron wirksame strukturelle Koppelung zwischen geografischer und sozialer Mobilität explizit nur für das 17. Jahrhundert und das mitteleuropäische Hofkünstlertum diskutiert. Fraglos hätte sich die heuristische Triade Reise-Migration-Exil bereits sinnvoll auf zeitgleich existierende künstlerische Bewegungsformen im konfessionell separierten, territorialstaatlich segmentierten und kolonial expandierenden frühneuzeitlichen Europa anwenden lassen, was freilich eine anders orientierte Auswahl der Fallstudien bedingt hätte.
Es sind denn auch eher die impliziten, für die Gesamtwirkung der hier versammelten Fallstudien gleichwohl entscheidenden Kriterien der Schwerpunktsetzung, die skeptisch stimmen: Von wenigen Ausnahmen abgesehen zeichnen die Beiträge anhand einer verlässlich kartografierten Höhenkamm-Kunstgeschichte Mobilitätspraktiken kanonischer Künstlerpersönlichkeiten nach. Die maskuline Titel-Semantik des Bandes gilt ohne Abstriche: Die in der Einleitung herangezogenen historischen Akteure sowie die Protagonisten der Fallstudien sind allesamt männlich; die knappen Ausführungen zu den Exilerfahrungen deutschsprachiger Künstlerinnen in Burcu Dogramacis Beitrag können den irritierenden gender bias, der die historische Darstellungsebene dieses Bandes durchzieht, kaum nachhaltig korrigieren. Eine kunstwissenschaftliche Mobilitätsforschung wird schwerlich neues Terrain erschließen, wenn sie sich an den veralteten kognitiven Landkarten der Mainstream-Kunstgeschichte orientiert.
Joachim Rees