Bettina Tüffers: Die 10. Volkskammer der DDR. Ein Parlament im Umbruch. Selbstwahrnehmung, Selbstparlamentarisierung, Selbstauflösung (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 173), Düsseldorf: Droste 2017, 380 S., 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-7700-5333-9, EUR 49,80
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Am 18. März 1990 wurde bei einer Wahlbeteiligung von 93,39 Prozent in der DDR ein Parlament gewählt, dessen spannende Geschichte bisher weitgehend der Deutungshoheit der damaligen Akteure überlassen blieb. Bettina Tüffers hat sich nunmehr der parlamentarischen Praxis und der politischen Kultur der 10. Volkskammer gewidmet und entkräftet einige der Mythen, die in der historischen Rückschau von damaligen Abgeordneten erschaffen wurden. Sie analysiert den sechs Monate dauernden Lernprozess dieser Abgeordneten, die über keinerlei Erfahrungen mit der Funktionsweise eines parlamentarischen Systems und seinen Arbeitsabläufen verfügten. Sie benutzt dafür den Begriff "Selbstparlamentarisierung", der auf das politische Selbstverständnis und die ganz spezifische Kultur einer parlamentarischen Institution im Wandel abzielt. Die erste frei gewählte Volkkammer wird als politischer Kommunikationsraum analysiert, in denen die Abgeordneten die parlamentarischen Regeln diskursiv aushandelten und ausprobierten, dabei aber durchaus auf Organisationsstrukturen, Arbeitsweise und Verfahrensregeln des Bonner Parlaments zurückgriffen.
Da die parlamentarische Entscheidungsfindung im Unterschied zur Intransparenz ihrer Vorgänger nunmehr vor den Augen der Öffentlichkeit demonstriert werden sollte, übertrug das DDR-Fernsehen die Sitzungen der 10. Volkskammer live. Tüffers beschreibt auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen der Plenarsitzungen die wechselseitige Beeinflussung zwischen Volkskammer, Medien und Öffentlichkeit und die daraus resultierenden Missverständnisse und Konflikte. Ihre Analyse macht deutlich, wie Abgeordnete im Zusammenspiel mit der Öffentlichkeit Strategien der Inszenierung entwickelten. Dadurch änderte sich auch deren Selbstwahrnehmung bzw. Selbstverständnis. Ein immenser Vorteil des ausgewerteten Filmmaterials, das immerhin 260 Stunden umfasst, liegt darin, Politik als kommunikativen Akt sichtbar machen zu können. Im Unterschied zu den stenographischen Sitzungsprotokollen werden Sitz- und Kleiderordnung, Rhetorik, Gestik, und Emotionen der Sprecher, aber auch bewusst inszenierte Auftritte der Abgeordneten deutlich. Auf diese Weise kann Tüffers die umfangreichen Filmaufnahmen nutzen, um die Atmosphäre der Sitzungen und die ganze Dynamik parlamentarischer Debatten zu beschreiben. Ergänzt wird diese aufschlussreiche Quelle durch Tonbandaufzeichnungen der Fraktionssitzungen von CDU/Demokratischer Aufbruch (DA), die zusätzliche Informationen liefern. Darüber hinaus wertet sie schriftliche Protokolle von Fraktionssitzungen, Unterlagen der Volkskammerausschüsse, des Präsidiums und der Volkskammerverwaltung aus dem Bundesarchiv sowie Zeitzeugeninterviews aus.
Die Einblicke in die parlamentarische Praxis zeigen, unter welch schwierigen Arbeitsbedingungen sich der Lernprozess der 400 gewählten Abgeordneten vollzog und welche Auswirkungen die neue Rolle als bezahlte Berufspolitiker auf deren Lebenswelt tatsächlich hatte. Tüffers schildert eindrucksvoll den parlamentarischen Alltag von Abgeordneten aus den Fraktionen von CDU/DA, SPD, Liberalen, PDS und Bündnis 90/Grüne. Hierbei werden auch der ungeübte Umgang mit den gängigen parlamentarischen Regeln und die Schwierigkeiten bei der Auslegung der Geschäftsordnung deutlich. Der Blick in die parlamentarische Praxis zeigt auch, wie sich die Sicht auf die damalige Tätigkeit der Parlamentarier in den letzten Jahren gewandelt hat. Galt der Umgang mit den Regeln der parlamentarischen Arbeit zunächst noch als amateurhaft und unbeholfen, erschien er aus späterer Sicht als experimentierfreudig, konsensorientiert, leidenschaftlich und lebendig. In dieser Hinsicht kann die Studie nachweisen, dass sich auch in der frei gewählten Volkskammer nach einer gewissen Anlaufphase die üblichen Mechanismen der parlamentarischen Entscheidung wie Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen im Plenum durchsetzten.
Das Verdienst der Studie besteht insbesondere darin, hauptsächlich durch Zeitzeugen geprägte Einschätzungen über die parlamentarische Praxis der Volkskammer zu hinterfragen. So galt die 10. Volkskammer bislang im Unterschied zum Bundestag als konsensorientiert, sachbezogen sowie an Problemlösungen und konstruktiver Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg interessiert. Obgleich diese Zuschreibungen durchaus der Realität entsprachen, verweist Tüffers auf bestehende Ähnlichkeiten mit der parlamentarischen Kultur des ersten Deutschen Bundestages, sodass die von damaligen Akteuren reklamierte Einzigartigkeit parlamentarischer Praxis der ersten frei gewählten Volkskammer relativiert werden muss. So entwickelte die Volkskammer in den Monaten zwischen dem 5. April und 2. Oktober 1990 eben keine eigenständige parlamentarische Kultur, die sich grundlegend von der etablierten westdeutschen Parlamentskultur unterschied. Sie war, folgt man dem Fazit von Tüffers, insofern auch kein echter parlamentarischer Sonderfall.
Gleichwohl bleibt nach der Lektüre der Studie der Eindruck, dass die 10. Volkskammer aufgrund ihres immensen Arbeitspensums, ihres komplexen Arbeitsauftrages sowie ihrer parlamentarischen Praxis - wie es Tüffers formuliert - als außergewöhnlich bezeichnet werden kann. Ihr war es als Repräsentant des ostdeutschen Staates und seiner Bürger gelungen, den rechtlich, wirtschaftspolitisch und sozial äußerst schwierigen Prozess der Vereinigung parlamentarisch zu regeln, obwohl sie sich bewusst war, sich mit der Verabschiedung des Einheitsvertrages selbst abzuschaffen. Schließlich ist Tüffers zuzustimmen, wenn sie das ostdeutsche Erbe der sechsmonatigen parlamentarischen Arbeit der Volkskammer darin sieht, "zu demonstrieren, wie eine parlamentarische Demokratie funktioniert - und damit sozusagen Werbung für das neu entstehende parlamentarische System zu machen" (341).
Tüffers hat, so bleibt resümierend festzuhalten, die Besonderheiten der parlamentarischen Kultur der letzten DDR-Volkkammer, aber auch deren Gemeinsamkeiten mit den etablierten westlichen Parlamenten überzeugend herausgearbeitet und damit gezeigt, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen parlamentarische Demokratie in den fünf neugebildeten deutschen Bundesländern entstehen konnte.
Andreas Malycha