Eva Jullien / Michel Pauly (eds.): Craftsmen and Guilds in the Medieval and Early Modern Periods (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 235), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, 316 S., ISBN 978-3-515-11235-2, EUR 54,00
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Der Band dokumentiert die Beiträge einer im September 2013 an der Universität Luxemburg veranstalteten Tagung. 50 Bewerbungen aus 18 verschiedenen Ländern verraten ein aktuell großes Interesse an Handwerkern und Zünften. Eva Jullien, die selbst parallel ihre Dissertation veröffentlichte [1], führt das rege Interesse darauf zurück, dass Zünfte Ausgangspunkte für viele aktuelle Forschungsrichtungen bieten und sich für vergleichende Studien und diachrone Perspektiven eignen (10). Rudolf Holbach greift Julliens Überlegungen auf und prüft mittelalterliche Zünfte und Handwerker auf ihre Aussagekraft in verschiedenen wirtschafts-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien. Die überkommene Meinung, in Zünften habe ein konservativer Geist geherrscht, "ist längst einer differenzierten Sicht gewichen" (34f.). Mit einer leisen Warnung vor einem Zuviel an Theorie angesichts einer schwierigen Quellenlage im Mittelalter schließt er.
Den ersten Block der Beiträge unter der Rubrik "Zunft und Öffentlichkeit" eröffnet Arien van Steensel. Er untersucht die Teilhabe der Zünfte an der städtischen Politik in Florenz, Gent und London und betont die Wirkmacht der städtischen Institutionen auf die Zünfte. Tineke Van Gassen wertete die Matrikel der Steinmetz- und Zimmerleute-Zünfte in Gent (1420-1499) aus und misst die Chancen ihrer Mitglieder, zu Ämtern in der Zunft und im Rat zu gelangen. Ricardo Cordoba de la Llave untersucht die Funktion der sog. "Veedores", die in spanischen Zünften die Qualitätskontrolle ausübten. Die Institution wurde aus Andalusien in muslimischer Zeit übernommen.
Der zweite Block ist der Handwerksarbeit von Frauen gewidmet. François Riviere stellte Rouen als eine der wenigen Städte neben Paris und Köln vor, in denen es Frauenzünfte gab. Er wertete Gerichtsakten zwischen 1395 und 1490 aus. In 69 von 695 Fällen waren Frauen beteiligt. Ausschließlich Frauen vorbehalten war die Zunft der Leinenhändler, zehn Zünfte waren gemischt. Nur die Leinenhändlerinnen verdrängten Männer aus den Zunftämtern. Muriel González Athenas vermisst Handlungsspielräume Kölner Handwerkerinnen des 18. Jahrhunderts, die vor allem in den Textilgewerben arbeiteten. Ihr Fazit: "Es gab keine 'Verdrängung der Frauen aus dem Handwerk'", vielmehr erfolgte ein Strukturwandel, durch den Arbeitschancen neu verteilt wurden (139). Maija Ojala vergleicht die Rolle der Handwerkerwitwen in Städten des Ostseeraums (Lübeck, Riga, Tallinn, Stockholm) anhand von deren Eingaben an den jeweiligen Rat zwischen 1350 und 1620. Die Vermittlung eines geeigneten Gesellen durch den Zunftvorsteher sei ein ungeschriebenes Recht gewesen, das sowohl der männlichen Kontrolle als auch der Fortsetzung des Betriebs gegolten habe. Ausgehend vom Straßburger Material des 15. Jahrhunderts geht Sabine von Heusinger der Frage nach, ob Familien im Handwerk eine Produktionseinheit bildeten. Ihr Befund differenziert: Ehefrauen arbeiteten in benachbarten oder fremden Berufen, 30% der Söhne wählten einen anderen Beruf als der Vater, 56% der Töchter wählten einen Ehepartner aus anderen Zünften. Eine solche Strategie diente der Risikominimierung.
Im dritten Block zu "Flexibilität und Dynamik auf zünftigen Arbeitsmärkten" berichtet Danica Brenner über einen wachsenden Abstand zwischen armen und reichen Malern im Augsburg des 16. Jahrhunderts, der der sich vergrößernden sozialen Kluft in der Stadt geschuldet war. Eine ähnlich große Heterogenität innerhalb der Zunft belegt auch Katalin Prajda unter den Goldschmieden und -schlägern in Florenz um 1400. Knut Schulz untersucht Büchsenmeister des Spätmittelalters, um die Ausbreitung neuen Wissens durch Migrationen zu bestimmen. Mit den Büchsenmeisterbüchern steht ihm eine neue Quellengruppe zur Verfügung. Er hebt die Rolle von Nürnberg hervor und stellt einzelne Büchsenmeister wie Walter von Arle detailliert vor. Die weiten Raumbezüge reichten bis in das Osmanische Reich. Reinhold Reith wertet zwei singuläre Quellen aus. Aus Mainz und Bamberg liegen zeitgenössische Enqueten vor, die Maria Theresia 1770 beim Kampf gegen den Blauen Montag veranlasst hatte. Der Taglohn sollte statt Wochenlohn eingeführt werden. Die befragten Meister zeigten sich reserviert, ließen jedoch erkennen, dass sie es ebenso wie die Gesellen für selbstverständlich hielten, "Lohn und Leistungen in Beziehung zu setzen" (259). Eleonora Canepari weist erwachsene Lehrlinge in Rom um 1700 nach. 30% der registrierten Lehrlinge und Gesellen waren über 30 Jahre alt. Sie benutzt den Befund, um die übliche Ausbildungsfolge im Handwerk in Frage zu stellen. Nicoletta Rolla charakterisiert den Arbeitsmarkt im Turiner Baugewerbe in den 1730er Jahren als extrem dynamisch. Die Arbeitgeber versuchten, die Kontrolle zu behalten, sahen sich aber einer starken Gesellenorganisation gegenüber.
Die Einzelstudien erweitern und präzisieren, jede für sich, die Kenntnisse über Handwerke und Zünfte in Europa. Der gemeinsame Nenner ist eine Heterogenität, die abweicht von dem Bild, das frühere Generationen entworfen haben. Neben dem Eintritt der Frauen in die Zunftgeschichtsschreibung ist die flexible Anpassung der Zünfte an sich verändernde wirtschaftliche Lagen ein durchgängiger Befund. Auf der Mikroebene lassen sich individuelle Strategien der einzelnen Handwerker und ihrer Familien nachweisen, die nicht in das überkommene Raster passen. Freilich lassen sich bei großem Respekt vor den Einzelbefunden Einwände gegen ihre Verallgemeinerbarkeit formulieren. Das räumliche und zeitliche Spektrum ist weit, es reicht von Cordoba bis Riga, vom 13. Jahrhundert bis 1770. Vergleiche sind selten und obendrein in den Beiträgen von van Steensel und Prajda auf gedrucktes Material beschränkt. Zeitlich wird zwar die Grenze zwischen Mittelalter und Frühneuzeit spielend überschritten; diese hatte in der Forschung ohnehin in jüngerer Zeit kein besonderes Gewicht mehr. Aber muss, wer die diachrone Perspektive betont, nicht auch Handwerk und Handwerker in der Zeit nach 1800 in den Blick nehmen? Was nach der Auflösung der Zünfte mit ihnen passierte, steht nicht mehr auf der Agenda. Eine weitere Leerstelle sind mittlere und kleinere Städte. Der Band behandelt ausschließlich vormoderne Großstädte und geht auf die Masse der kleineren Städte nicht ein, vom Handwerk auf dem Land ganz zu schweigen. Sollte das den aktuellen Forschungsstand in Europa widerspiegeln? Angesichts der günstigeren Überlieferungslage in den Großstädten wäre eine solche Strategie der unvernetzten "Einzelpersonen ..., die sich mit der Zunftthematik auseinandersetzen" (Jullien, 10), durchaus verständlich. Die Summe solcher Forschungen bietet jedoch aufs Ganze gesehen ein lückenhaftes Bild von Handwerkern und Zünften, das der Ergänzung und womöglich der Korrekturen bedarf.
Anmerkung:
[1] Eva Jullien: Die Handwerker und Zünfte der Stadt Luxemburg im Spätmittelalter, Köln / Weimar / Wien 2017.
Wilfried Reininghaus