Rezension über:

Sven Kinas: Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933-1945 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte; Bd. 17), Heidelberg: Synchron 2018, 498 S., 67 Tbl., ISBN 978-3-939381-96-9, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ekkehard Henschke
Oxford
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Ekkehard Henschke: Rezension von: Sven Kinas: Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933-1945, Heidelberg: Synchron 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/02/32215.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sven Kinas: Akademischer Exodus

Textgröße: A A A

Bei dieser umfangreichen Untersuchung handelt es sich um die von Michael Grüttner betreute Dissertation, mit der der Verfasser 2014 an der Technischen Universität Berlin promoviert wurde. Mit der überarbeiteten Fassung präsentiert Kinas das Ergebnis eines langjährigen Vorhabens [1], "anhand von vier preußischen Universitäten den Verlauf, das Ausmaß und die Folgen der nationalsozialistischen Entlassungspolitik darzustellen" (14).

Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme von 1933 galten Berlin und Frankfurt/Main als liberale, Halle und Greifswald als nationalkonservative Hochschulen. Dass und wie sie wie die anderen deutschen Hochschulen "nazifiziert" wurden, konnte quantitativ und qualitativ erst relativ spät erforscht werden. Die Bearbeitung des Materials, d.h. der Sach- und Personalakten des ehemaligen Preußischen Kultusministeriums und ab 1934 des Reichserziehungsministeriums sowie der vier Universitätsarchive, war erst nach der deutschen Vereinigung und der verbesserten Zugänglichkeit der betreffenden Archive möglich geworden. Um endlich zu genauen Zahlenangaben zur "negativen Personalpolitik" der Nationalsozialisten zu gelangen, musste der Verfasser auch umfangreiche einzelbiografische Untersuchungen anstellen, um "rassisch" und politisch Verfolgte von jenen trennen zu können, die aus anderen, meist persönlichen Gründen die Universitäten verlassen mussten. Dabei geht der Zeithorizont z.T. über das Jahr 1945 hinaus.

Am Anfang steht Kinas' kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Literatur und methodische Überlegungen, wer zum Lehrkörper und wer zu den wirklichen Opfern der negativen NS-Personalpolitik zu rechnen war. Der eigentliche Textteil enthält die teils systematische, teils chronologische Darstellung, die immer wieder mit einzelbiografischen Details angereichert ist und am Ende die Ergebnisse mit einem Resümee präsentiert. Der statistische Teil im Anhang weist auf fast 40 Seiten die Lebensgeschichten der zwischen 1933 und 1945 entlassenen und vertriebenen Hochschullehrer in extrem knapper Weise nach. Dieser Teil ist nach den vier Universitäten Berlin, Frankfurt/Main, Halle und Greifswald geordnet und diese wiederum nach Fakultäten. Die Tabellen ganz am Schluss differenzieren die Entlassenen und Vertriebenen nach Statusgruppen und geben die Schicksale der emigrierten und nichtemigrierten Hochschullehrer der vier Universitäten an. Das Personenregister dient als notwendiger Wegweiser durch beide Teile.

Zu den am Anfang geschilderten, rechtlichen Grundlagen, die sich der nationalsozialistische Staat für die Massenentlassungen 1933/1934, 1935/1936 und 1937/1938 schuf, gehörten insbesondere das Berufsbeamtengesetz von 1933, die Reichshabilitationsordnungen von 1934 und 1939 sowie das Reichsbürgergesetz von 1935. Im Mittelpunkt von Kinas' Untersuchung stehen jedoch die drei parallel verlaufenden Phasen antisemitisch motivierter Personalpolitik, wobei er alle Statusgruppen - vom ordentlichen Professor bis zum Lehrbeauftragten - im Auge hat. Danach schildert er die politisch begründeten Entlassungen von Hochschullehrern, die insbesondere dem linken, liberalen und nationalkonservativen Spektrum zugerechnet wurden.

Angesichts der Unmöglichkeit, auf Einzelschicksale einzugehen, die sich hinter den Zahlen und Akten verbergen, soll auf das - auch für einen Historiker - niederschmetternde Gesamtergebnis eingegangen werden. Kinas ermittelte, dass die 15 deutschen Universitäten zwischen 1933 und 1945 durch Entlassungen und Vertreibungen insgesamt 937 Wissenschaftler (21,5 %) verloren (314). Berlin und Frankfurt/Main, die weit mehr als ein Drittel ihres Lehrkörpers verloren, waren mit 290 (35,8 %) und 130 (37,6 %) Personen die am stärksten betroffenen Hochschulen. Halle und Greifswald lagen mit 44 (17,9 %) und 21 (12,7 %) wesentlich darunter. Dabei spielten antisemitische Begründungen bei der überwiegenden Mehrheit der Entlassungen die ausschlaggebende Rolle. Die geringeren Werte bei Greifswald führt Kinas darauf zurück, dass diese Universität schon vor 1933 nur schwer überwindbare "Rassenschranken" aufgewiesen habe (356). Es habe dort nur wenige Hochschullehrer mit jüdischen Ehefrauen oder "Mischlinge" gegeben, aber keinen einzigen Hochschullehrer, der sich zum jüdischen Glauben bekannt habe (318).

In seinem Resümee stellt Kinas drei der wichtigsten gesellschaftlichen Folgen des erzwungenen Exodus heraus: 1. den riesigen wissenschaftlichen "Substanzverlust für das Deutsche Reich und seine Nachfolgestaaten", "2. die gravierende Umwälzung des akademischen Arbeitsmarktes und 3. die Stärkung des wissenschaftlichen Potentials der künftigen Kriegsgegner Deutschlands" (398). Abgesehen von den vielen persönlichen Tragödien, die in den kurzen Einzelbiografien und dem statistischen Zahlenwerk angedeutet werden, war es eine Art Selbstamputation des Deutschen Reiches aus überwiegend rassistischen Gründen. Die Universität Berlin hatte in dieser Hinsicht die wohl schwersten Verluste, mussten doch allein drei Nobelpreisträger (Fritz Haber, Erwin Schrödinger und Ernst Boris Chain) das Land verlassen. Diese und viele andere Spitzenwissenschaftler fanden insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien neue Forschungsmöglichkeiten, die diesen Staaten sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich (z.B. Manhattan-Projekt zur Entwicklung der Atombombe, 411) von großem Nutzen waren.

Die Arbeit von Sven Kinas stellt keine leichte Lektüre dar. Gerade wegen der nüchternen Erzählweise und der vielen Statistiken und Tabellen wirken die zahlreich eingeflochtenen Einzelbiografien oft umso dramatischer. Die sorgfältig belegte Untersuchung, die auch die früheren Forschungen (u.a. von Henrik Eberle und Michael Grüttner) diskutiert, dürfte zu einem Standardwerk der deutschen Universitätsgeschichte für die Zeit des Nationalsozialismus werden.


Anmerkung:

[1] Vgl. Michael Grüttner / Sven Kinas: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933-1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), 123-186.

Ekkehard Henschke