Patrick Leukel: "all welt wil auf sein wider Burgundi". Das Reichsheer im Neusser Krieg 1474/75 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 110), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, XII + 594 S., 4 Kt., 4 Tbl., 2 s/w-Abb., 7 Farbabb., ISBN 978-3-506-70914-1, EUR 148,00
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Fast ein Jahr lang hielt die Stadt Neuss stand, als Herzog Karl der Kühne von Burgund sie belagerte, und damit ermöglichte sie, was seit Langem nicht gelungen war: Das Reich stellte, wenn auch langsam, ein Heer auf, und es kamen sogar Kontingente von Fürsten und Städten, die sich bislang wenig um die Reichspolitik gekümmert hatten. Mehr noch: Dieses Heer zog gegen den Feind und zwang ihn zum Rückzug. Die politischen Aspekte dieser Vorgänge wurden mehrfach behandelt, nicht zuletzt von Peter Moraw, der ihre Bedeutung für die "Verdichtung" des Reichs und für die Regierung Friedrichs III. hervorhob. Das Heer jedoch, das aufgestellt wurde, beachtete man kaum - wohl auch deswegen, weil das Interesse an Kriegsgeschichte in der deutschen Mediävistik noch später als in anderen historischen Teilfächern wieder auflebte.
Nun wird dieses Reichsheer in einer Studie behandelt, die interessante Ergebnisse erbringt und eine Unmenge von Material verarbeitet hat - obwohl sich der Verfasser klug auf sieben Archive beschränkt hat; in vielen weiteren dürfte sich noch manches auffinden lassen. Gerade in der Menge des Materials aber liegt ein Problem, denn der Verfasser hat Schwierigkeiten, diese Masse konzeptionell in den Griff zu bekommen.
Nach seinen Worten "verfolgt die Arbeit das Ziel, das Beziehungsgeflecht des Reichsheeres im Neusser Krieg als soziales Gefüge zu rekonstruieren und dessen Funktionsweise zu beschreiben und zu analysieren" (6). Dem Ziel entsprechend findet sich am Beginn der Arbeit ein methodisches Kapitel über "historische Netzwerkanalysen" (11-21), und aus diesen Analysen gehen wertvolle Erträge der Arbeit hervor. Es ist zu vermuten, dass hier der ursprüngliche Ansatz der Arbeit liegt. Zwangsläufig aber geht es bei den dokumentierten Kontakten der Personen, welche die hier interessierenden Netzwerke bilden, um vielfältige Sachfragen politischer, militärischer und logistischer Art. Auch diese Sachfragen sind wichtig, aber schwer gemeinsam mit der Netzwerkanalyse in einer prägnanten und stringenten Darstellung unterzubringen.
Konzeptionelle Probleme zeigen sich schon daran, dass die Einleitung im Grunde zweigeteilt ist. Ein erstes Kapitel, das "Einleitung" betitelt ist, erörtert zunächst den Forschungsstand und die Ziele der Arbeit, greift dabei aber auch auf die Ergebnisse vor (3). Dann wird die Quellenlage umrissen und die Auswahl der benutzten archivalischen Quellen begründet (7). Diese wiederum stammen aus jenen sieben Archiven, in denen die maßgebliche Überlieferung zu jenen Fürsten und Städten liegt, auf denen aus inhaltlichen Gründen (und ganz plausibel) ein besonderes Augenmerk liegen soll. Welche Personen und Städte dies sind und warum sie ausgewählt wurden, wird aber erst in Kapitel 2 auf Seite 23 erläutert. Dieses Kapitel 2 erläutert, wie schon erwähnt, die Methode der Netzwerkanalyse und ihre konkrete Anwendung auf das Reichsheer; erst dann stellt es die Gliederung vor (21-24).
Das dritte Kapitel mit dem Titel "Aspekte des Kriegswesens im 15. Jahrhundert" versucht, diejenigen Phänomene, die später beim Reichsheer festgestellt werden, in allgemeine Tendenzen einzuordnen. Doch ist dieses Thema schwer zu überblicken, erst recht, wenn in Kapitel 3.1 unnötiger Weise weite Teile Europas berücksichtigt werden, z.B. Spanien (49-51). Auch die Darlegungen zu den Hussiten und ihrer Kriegführung sind in dieser Breite wenig hilfreich, denn die Hussitenkriege lagen 1474/75 doch schon eine Generation zurück (51-55). Mangels Konzentration auf das Wesentliche gelingt es dann nicht recht, die umfangreiche Literatur zum Thema angemessen zu erfassen. Insbesondere fehlen zu Frankreich und Burgund sämtliche Werke von Philippe Contamine und Bertrand Schnerb. Übersichtlich schildert dann Kapitel 3.2 die tatsächliche Heeresaufbringung im Reich des 15. Jahrhunderts. Das Kapitel 4 schildert recht unpointiert den Ablauf des Neusser Kriegs.
Mit Kapitel 5 beginnt dann auf Seite 151 mit Ausführungen über die Aufstellung des Reichsheeres die Behandlung des eigentlichen Themas. Das Vorgehen ist für die folgenden Kapitel typisch. Leukel referiert die einzelnen Quellen, oft in der chronologischen Reihenfolge, ist dabei durchaus präzise, spricht aber zwangsläufig auch Nebenthemen an, die zufällig in der Quelle erwähnt werden. Das macht die Darstellung schwerfällig. Die Ergebnisse sind allerdings weiterführend, und sie werden am Ende der Kapitel stets prägnant zusammengefasst.
Es zeigt sich, dass der Kaiser in diesem Konflikt vor allem mit jenen Fürsten politisch zusammenarbeitete, mit denen er es zuvor auch getan hatte. Dieselben Fürsten zogen später selbst mit ihrem Kontingent an den Rhein. Leukel ermittelt sorgfältig, welche Kontingente nachweisbar sind und wie stark sie wohl waren. Er kommt auf eine Gesamtstärke von wenigstens 33.000 Mann, wohl 35.000 bis 40.000 Mann, die aber nie alle gleichzeitig präsent waren.
Warum die Truppen gestellt wurden, untersucht der folgende Abschnitt (Kapitel 6). Leukel betont, wie wichtig die persönliche Anwesenheit des Kaisers beim Heer war; das Phänomen ist in ähnlicher Weise von Reichstagen bekannt. Außerdem empfand man das ganze Reich als bedroht, sodass der Appell an die "Deutsche Nation" und an die Pflichten der Reichsglieder wirksam war. Auch führten Bündnisse zwischen einzelnen Reichsgliedern, vor allem von Städten, dazu, dass nicht unmittelbar Bedrohte Truppen schickten.
Wenn dann in den nächsten Abschnitten (Kapitel 7 und 8) gefragt wird, wie die fürstlichen bzw. städtischen Kontingente organisiert wurden, zeigt sich, dass im Allgemeinen nichts Außergewöhnliches geschah. Wie bei vorhergehenden Versuchen zur Aufstellung eines Reichsheers zeitigte der sogenannte "Kleine Anschlag", die Anforderung von schnell abzustellenden kleinen Kontingenten für die unmittelbare Hilfe, wenig Erfolg, und die Gestellung von Aufgeboten für den "Großen Anschlag", d.h. für das Hauptheer, zog sich lange hin - aber diesmal ließen, anders als bei früheren Gelegenheiten, der Gegner und das hartnäckige Neuss dem Reichsheer genug Zeit. Die einzelnen Reichsglieder stützten sich bei der Aufstellung ihrer Truppen, deren Ausrüstung und Finanzierung auf die Erfahrungen, die sie bei früheren militärischen Konflikten gemacht hatten, bei denen es sich aber nicht um Reichskriege gehandelt hatte.
Das letzte Kapitel der Untersuchung (Kapitel 9) widmet sich der Organisationsebene oberhalb der Kontingente und weist die interessantesten Erkenntnisse auf. An vielen Beispielen zeigt Leukel auf, dass sich im Heer das politische System des Reichs spiegelte. Hochrangige Fürsten konnten z.B. erwarten, dass sie nicht nur ihr eigenes Kontingent führten, sondern auch das Oberkommando über andere Truppen erhielten. Die Wagenburg- und Lagerordnungen regelten nicht nur praktische Probleme, sondern strebten auch danach, den Rang der Fürsten symbolisch auszudrücken, z.B. dadurch, dass die Zelte des Kaisers und der Fürsten in der Wagenburg in der Mitte stehen sollten. Die Reichsstädte arbeiteten im Heer wie in der Politik eng zusammen.
Ein "Fazit" (Kapitel 10) fasst das Vorgehen und die Ergebnisse nochmals prägnant zusammen. Im Anhang der Arbeit finden sich eine Reihe von Grafiken, die Netzwerke veranschaulichen (573-582).
Trotz der erwähnten Schwächen liegt hier ein Werk vor, das nicht nur das Reichsheer im Neusser Krieg umfassend behandelt, sondern auch für die Beschäftigung mit Heeren und Kriegen im Reich des 15. Jahrhunderts viele Grundlagen und Anregungen bietet.
Malte Prietzel