Ellen Widder / Iris Holzwart-Schäfer / Christian Heinemeyer (Hgg.): Geboren, um zu herrschen? Gefährdete Dynastien in historisch-interdisziplinärer Perspektive (= Bedrohte Ordnungen; Bd. 10), Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 307 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-153609-0, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Martin C. Wald: Die Gesichter der Streitenden. Erzählung, Drama und Diskurs des Dreißigjährigen Krieges, 1830 bis 1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008
Wolfgang Reinhard (Hg.): Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte Band 10: Maximilian Lanzinner: Konfessionelles Zeitalter 1555-1618. Gerhard Schormann: Dreißigjähriger Krieg 1618-1648, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2001
Volker M. Schütterle: Großbritannien und Preußen in spätfriderizianischer Zeit (1763-1786), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2002
Christian Heinemeyer: Zwischen Reich und Region im Spätmittelalter. Governance und politische Netzwerke um Kaiser Friedrich III. und Kurfürst Albrecht Achilles von Brandenburg, Berlin: Duncker & Humblot 2016
Iris Holzwart-Schäfer: Das Karmelitenkloster in Esslingen (1271 - 1557). Ein südwestdeutscher Mendikantenkonvent zwischen Ordensideal und Alltagswirklichkeit, Ostfildern: Thorbecke 2011
Stattliche sechs Jahre nach einer Tübinger Konferenz im Rahmen des dortigen Sonderforschungsbereichs "Bedrohte Ordnungen" erscheint nun ihre Dokumentation: in äußerlich sehr ansprechender Gestalt und mit einem geradezu vorbildlichen Gesamtregister.
Der Workshop zählte zu den Aktivitäten eines von der Herausgeberin Ellen Widder geleiteten Teilprojekts, das sich mit der Bedrohung politisch-sozialer Ordnungen im 14./15. Jahrhundert im Gefolge dynastischer Brüche beschäftigt. Der Begriff "Dynastie" wird - an verschiedenen Stellen wird darauf abgehoben - heute weit über die Hochadelsverbände hinaus geradezu inflationär verwendet, von den Unternehmer- bis zu den Politikerdynastien; von den Wissenschaftlerdynastien oder den Schauspielerdynastien gar nicht erst zu sprechen. Um hier einer gewissen Beliebigkeit Einhalt zu gebieten, ist es sicher notwendig, das zu beherzigen, was die Herausgeber im Vorwort erwähnen: dass nämlich bei jeder "Dynastie" das Bewusstsein gegeben sein muss, sich auch als "Dynastie" zu empfinden, als Glied einer "personalen Kontinuität innerhalb einer Verwandtschaftslinie". Dynastien konnten (und können) durch viele Faktoren in ihrer Kontinuitätsbildung oder -fortschreibung gefährdet werden, ihre Unsicherheit und Instabilität sind gewissermaßen systemimmanent: davon handelt dieser Band. Der Begriff "Dynastie" erscheint erst im Untertitel des Buches; als Haupttitel fand eine in vielen Quellen nachweisbare Metapher Verwendung.
In einem ersten "Block" werden vier Beiträge zusammengefasst, die sich mit "dynastischem Bewusstsein" beschäftigen. Karl Ubl untersucht anhand der Herrscherlisten in frühmittelalterlichen Rechtshandschriften das genealogische Wissen im karolingischen Frankenreich, also das Wissen über Verwandtschaft, das sich nicht mehr wie bei den Merowingern durch äußere Merkmale - die langen Haare - konstituierte, sondern durch die Namen der Mitglieder der Dynastie, deren Angehörige sich nicht etwa über die Abstammung, sondern vorrangig über die Kontinuität des königlichen Amtes definierten. Bernd Kannowski nimmt die häufigen Dynastiewechsel bei den deutschen Königswahlen im 14. und 15. Jahrhundert zum Anlass, sich, für die Fragestellung des Buches eher randständig, erneut - in Auseinandersetzung u.a. mit den Thesen Armin Wolfs von den "Tochterstämmen" - mit der Entstehung des Kurfürstenkollegs zu beschäftigen, wobei die Erwähnung der Sieben im Sachsenspiegel wohl nach wie vor ein Rätsel bleibt. Die Besetzung des deutschen Throns wenigstens des ausgehenden Mittelalters war zwar nicht allein eine Erbangelegenheit, aber auf jeden Fall eine "Familienangelegenheit" im Sinn der Mitsprache in einem größeren Verband. Von dem "unverschämten biologischen Glück" (59), das die französischen Kapetinger über drei Jahrhunderte hatten, als auf einen Vater immer ein Sohn folgte, spricht Gilles Lecuppre, dessen Hauptanliegen es ist, die Ausdrucksformen der Kapetinger-Nostalgie um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu beleuchten, als Valois-Könige sich nicht nur mit benachbarten ausländischen Fürsten mit kapetingischen Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch mit einem betrügerischen Prätendenten (einem angeblich vertauschten Säugling, dem "einzigen Hochstapler, der nach der französischen Krone trachten konnte") auseinanderzusetzen hatten, von denen jeder behauptete, "kapetingischer" als die anderen zu sein (60). Die Erhebung eines Kandidaten zum König, der nicht über ausreichendes kapetingisches "Kapital" verfügte, stand damals in Frankreich nie zur Diskussion. Dass sich der Valois Karl V. am Ende durchsetzen konnte, verdankte er nicht nur der Tatsache, dass es ihm gelang, die zukünftige Thronfolgeregelung schriftlich zu fixieren, sondern auch der Art und Weise, wie er Ludwig den Heiligen für sich zu reklamieren verstand. In die Frühe Neuzeit schließlich führt der Beitrag Martin Wredes, der mit den Haus Arenberg eine Familie einführt, die sich erst noch zur "Dynastie" entwickeln musste, der dies aber sowohl im Reich wie auch - durch die Nachfolge im Herzogtum Croy - in den Niederlanden in erstaunlich kurzer Zeit gelang. Aber damit war das Haus gegen Krisen keineswegs gefeit, die zum Teil aus unzeitigen Absichten von Familienmitgliedern, in den geistlichen Stand überzuwechseln, zum Teil aus einer vieljährigen Inhaftierung des regierenden Fürsten durch die Krone Spanien resultierten, zum dritten schließlich aus dem Schlachtentod etlicher Prinzen des Hauses im ausgehenden 17. Jahrhundert. Aber das Haus "blieb oben", auch weil es durch seine Hofhistoriografen mit viel Erfolg seine "Konsanguinität mit der europäischen Fürstengesellschaft" (91) zu unterstreichen und zu reklamieren verstand.
Dem Abschnitt über Gefährdungen von Dynastien schließt sich ein "Block" von Aufsätzen zur Thematik "Strategien der Nachfolgesicherungen" an. Die Beiträge von Christina Antenhofer und Michael H. Zach liegen geografisch und chronologisch zwar weit auseinander, lassen aber erkennen, wie groß das Arsenal war, dessen man sich in verschiedenen Kulturen bediente, um eine Dynastie "funktionstüchtig" zu halten: In dem erstgenannten Artikel geht es um die Steigerung der Überlebensfähigkeit und der Reproduktionsfähigkeit von (männlichen und weiblichen) Angehörigen des Hauses Gonzaga im 15. Jahrhundert, die mit vielfältigen medizinischen Ratschlägen einherging, in dem Beitrag zum Reich von Kusch im antiken, also vorchristlichen Nordafrika auf der Grundlage eines ganz anders gearteten Quellencorpus um die Flexibilität bei der Regelung der Königsnachfolge, entweder über die Schwestersöhne oder ggf. auch durch die Wahl eines besonders kampfestauglichen Mannes von außerhalb der "Dynastie". Der Beitrag von Dominique Otten-Pappas über Frauen in (gegenwärtigen) Familienunternehmen und das Phänomen der (immer noch oft genug aus der Not heraus geborenen) Töchternachfolge macht diesen "Block" der Beiträge noch um einiges bunter, wiewohl der Vergleich von Unternehmensinsolvenzen aufgrund gescheiterter Nachfolgeprozesse mit antiken oder spätmittelalterlichen dynastischen Krisen nicht immer trägt.
Im letzten "Block" werden Fallbeispiele von dynastischen Krisen infolge fehlender "geborener" männlicher Nachfolger vorgestellt: Zunächst das "Ringen um den schottischen Thron" (Jörg Rogge) nach dem Tod König Alexanders III. 1286, dem zwei Jahre zuvor das unzeitige Ableben des Kronprinzen vorausgegangen war und dem der Tod der als Thronfolgerin eingesetzten Enkeltochter folgte - ein dynastischer worst case. Nicht weniger als dreizehn Bewerber erhoben in dieser Krisensituation Anspruch auf den dortigen Thron, die sich am Ende mit der Lösung des Konflikts durch ein Rechtsverfahren unter dem Vorsitz des englischen Königs einverstanden erklärten, aus dem dann auch prompt der dem Engländer am meisten genehme Kandidat als Sieger hervorging. Sodann, ganz ähnlich gelagert, der Vorgang in Neapel-Sizilien, wo es König Robert I. nach dem Tod seines Kronprinzen freilich gelang, die Nachfolge seiner Enkelin Johanna gegen die Ansprüche etlicher männlicher Prätendenten aus den Familien seiner Brüder durchzusetzen (Iris Holzwart-Schäfer) - auch wenn die Fürstin dann lebenslang mit erheblichen Legitimitätsproblemen zu kämpfen hatte. Schließlich Heidi Mehrkens' Beitrag zum (durch einen Verkehrsunfall verursachten) Tod des Prinzen Ferdinand-Philippe d'Orléans (1842), eines "Hoffnungsträgers" der (neuen, nach der Abdankung Karls X. 1830 an die Stelle der Bourbonen getretenen) Orléans-Dynastie, ein Frankreich tief aufwühlendes Ereignis, das die Familie und die Regierung bewog, ein (im Entwurf auf die männliche Erbfolge zugeschnittenes) Regentschaftsgesetz auf den Weg zu bringen, gegen das es allerdings Widerstand gab. Oppositionelle Kräfte planten, die Regentschaft auf die Witwe des Verstorbenen umzuleiten, vor allem aber gab dieser Trauerfall auch wieder Kräften aus dem bonapartistischen und dem bourbonischen Lager Anlass, auf sich aufmerksam zu machen.
Den letzten "Block" beschließt eine literaturwissenschaftliche Untersuchung einer am Hof einer regierenden Gräfin von Nassau-Saarbrücken entstandenen Prosa-Adaption eines Textes über Hugo Capet (der dessen Legitimität in Frage stellt), die die mögliche Nachfolge einer Frau diskutiert und sich letztlich für ihren Ausschluss verwendet. Ein sehr kompetentes Resümee von Iris Holzwart-Schäfer rundet den Band ab.
Die Tagungsdokumentation, in die - wie man dieser und jener Fußnote entnimmt - freilich nicht alle in Tübingen gehaltenen Vorträge aufgenommen wurden/werden konnten, besticht durch die Fallbeispiele zu dynastischen Krisen im ausgehenden Mittelalter. Die außereuropäische Welt wird nur in einem (ziemlich entlegenen) Beispiel thematisiert: das ist dann doch arg punktuell, will man zu irgendwelchen komparatistischen Aussagen gelangen. Auch die vermeintlichen Analogien zu Nachfolgeproblemen in gänzlich anderen Bereichen der Gegenwart als denen des Hochadels sollte man nicht überstrapazieren. Dass ein Ausweg aus einer dynastischen Krise immer auch eine befristete (und streng reglementierte) Personalunion mit einem angrenzenden Staat sein konnte, wurde schon im ausgehenden Mittelalter praktiziert (und in der Neuzeit noch häufiger), findet hier aber keine Beachtung. Ein Autorenverzeichnis wäre erwünscht gewesen.
Heinz Duchhardt