Paul Collins / Charles Tripp (eds.): Gertrude Bell and Iraq. A Life and Legacy (= Proceedings of the British Academy; 205), Oxford: Oxford University Press 2017, XII + 309 S., ISBN 978-0-19-726607-6, GBP 75,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Carl Alexander Krethlow: Bagdad 1915/17. Weltkrieg in der Wüste, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018
David French: The British Way in Counter-Insurgency, 1945-1967, Oxford: Oxford University Press 2011
Tim Szatkowski: Die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei 1978 bis 1983, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016
Seit Beginn des Irak-Krieges 2003 ist eine ganze Reihe von historischen beziehungsweise historiografischen Publikationen zum Thema Mesopotamien/Irak erschienen. Die Palette reicht von kritischen Analysen im Geiste Edward Saids über Handbücher, Quelleneditionen und militärgeschichtliche Abhandlungen - hier nicht zuletzt die im anglo-amerikanischen Bereich beliebten Publikationen zu geheimdienstlichen Aktivitäten - bis hin zu diachronen Vergleichen mit teils praxisorientierter Zielrichtung (Irak 1914/45 vs. Irak 2003/11).
Ein besonderer Fokus liegt auf den herausragenden Gestalten bei der Eroberung der osmanischen Provinzen im Ersten Weltkrieg und deren anschließender Neugestaltung in der Mandatszeit ab 1920. Neben T. E. Lawrence war dies insbesondere Gertrude Bell. Bell (geb. 1868) war die Tochter eines Großindustriellen und die erste Frau in Großbritannien, die ein Studium in Zeitgeschichte mit Höchstabschluss absolvierte und in die Lady Margaret Hall aufgenommen wurde. Sie unternahm ab 1892 zahlreiche Reisen in den Orient und etablierte sich bereits im Vorfeld des Ersten Weltkriegs als Expertin für die Beduinen auf der arabischen Halbinsel. Trotz liberaler Erziehung war sie politisch konservativ und engagierte sich unter anderem gegen die Frauenrechtsbewegung. Sie entwickelte Kontakte zu hochrangigen Regierungsvertretern, darunter Winston Churchill oder Charles Hardinge, Vizekönig von Indien (1910-1916). So gestaltete sie die Neuordnung der Region, insbesondere die Unabhängigkeit des Irak, mit. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1926 spielte sie eine wichtige Rolle, etwa mit ihren vielen Publikationen und ihrer Bekanntheit in der britischen Öffentlichkeit.
Der Sammelband von Paul Collins und Charles Tripp bietet nun eine herausragende wissenschaftliche Standortbestimmung dazu. Die zwölf Beiträge beleuchten die Tätigkeit von Gertrude Bell im Irak aus allen wichtigen Blickwinkeln. Dabei entsteht ein differenziertes, teils kritisches Bild, das gute Ansätze für weiterführende Forschungen erkennen lässt. Aus militärhistorischer Perspektive sind insbesondere die Beiträge von Peter Sluglett, Tamara Chalabi, Myriam Yakoubi und Saad B. Eskander zu erwähnen.
Schon die Einleitung der Herausgeber macht deutlich, dass Gertrude Bell keineswegs nur aus romantisierender Begeisterung für die orientalische Welt heraus, sondern klar und nachhaltig innerhalb eines machtpolitischen Rahmens handelte. Wie aus dem Beitrag von Myriam Yakoubi hervorgeht, war es etwa mit dem Enthusiasmus für den zeitweise als besonders geeignet angesehenen irakischen König Feisal ziemlich schnell vorbei, wenn sich die Betreffenden nicht an den Interessen der britischen Herrschaft orientierten, sondern eigene Ziele verfolgten. Feisal, dessen Ruf ganz wesentlich auf seiner Rolle als Anführer der arabischen Revolte gegen das osmanische Reiche basierte, wurde nach Lawrences Worten von den Briten nicht primär wegen seiner kulturellen Stellung als Teil eines der bedeutendsten Herrscherhäuser, sondern wegen seiner politischen, diplomatischen und militärischen Fähigkeiten als Führer ausgewählt. [1]
Der Sammelband zeigt exemplarisch auf, wie geistig-romantisierende Projektion und machtpolitisch-militärisches Kalkül im Irak ineinanderwirkten. So analysiert Peter Sluglett scharfsinnig das Verhältnis von Gertrude Bell zum Osmanischen Reich. Keineswegs äußerte sie sich zu allen Zeiten pro-arabisch und anti-türkisch. Erst das Kriegsgeschehen selbst, das eine eindeutige Feindbestimmung nötig machte, führte zu einer Parteinahme Bells zugunsten der sunnitischen Araber, die sie nachfolgend als entscheidende Stütze für den neuen Staat Irak ansah. Dies zum eindeutigen Nachteil der Schiiten und vor allem der Kurden, wie Saad B. Eskander zeigt.
Gertrude Bell erscheint insgesamt als eine "hybride" Persönlichkeit. Sie wusste sich, wie die Aufsätze von Helen Berry und Tamara Chalabi zeigen, in der von Männern, vor allem von Soldaten, geprägten Welt zu behaupten und konnte sich durch die besondere Situation an der vordersten Front des britischen Weltreiches auch Freiräume eröffnen. Sie handelte aber, trotz der immer wieder bekundeten Sympathien für die Araber und überhaupt die orientalische Welt, meist strikt im Sinne der Machterhaltung des Empire. Sie bewertete Mesopotamien im Rahmen des bildungsbürgerlichen europäischen Wissenskanons, der zu dieser Zeit vertiefte Kenntnisse nicht nur von der klassischen Antike, sondern auch von frühgeschichtlichen Hochkulturen beinhaltete. Die damit verbundenen Elemente prägten das Bild der Region in der zeitgenössischen Wahrnehmung. Gleichzeitig gehörte Bell zum imperialistisch-konservativen Lager und konnte mit modernen, demokratisch orientierten Massenbewegungen nur wenig anfangen. Die Bewohner des neuentstehenden Irak betrachtete Bell als Nachfahren einer lang zurückliegenden Zeit, die sich im Grunde seit den Eroberungszügen des frühen Islam kaum weiterentwickelt hatten. Wie eine umfassende Modernisierung der Region gelingen sollte, konnte Bell nicht wirklich aufzeigen.
Ihre Zeit als Mitspielerin in der Machtgestaltung war dann auch begrenzt. Aufgrund ihrer überragenden Kenntnisse der Araber, insbesondere der Wüstenbeduinen, wurde sie nach der weitgehenden Eroberung Mesopotamiens durch die britische Armee im Jahre 1917 hochrangige "Oriental Secretary" in der Verwaltung, gefördert durch den Hochkommissar Sir Percy Cox. Indes wurde nach einiger Zeit deutlich, dass ihr Einfluss - auch auf den neuen König Feisal - schwand. Bell wurde schließlich in den Kulturbereich, ins Museums- und Bibliothekswesen, abgeschoben. Zwar empfand sie dies grundsätzlich als sinnvolle Tätigkeit, ihre Enttäuschung überwand sie jedoch nicht. Manche Betrachter sehen darin eine der Ursachen für ihren Freitod im Jahre 1926.
Über ihre machtpolitische Reichweite kann man trefflich diskutieren, wie der Band deutlich macht. Es darf bezweifelt werden, ob Bell größere Popularität bei Stämmen und Notablen erlangt hätte, wenn nicht bekannt gewesen wäre, dass sie im Auftrag des Empire handelte. Umgekehrt dürfte, soweit in der Forschung bislang nachweisbar, ihr machtpolitisches Eigengewicht begrenzt gewesen sein. Die eigentlichen Entscheidungsträger waren die Leiter vor Ort. Es ist kaum denkbar, dass Bell etwas erreicht hätte, wenn etwa Sir Percy Cox grundsätzlich anderer Meinung gewesen wäre.
Insgesamt ist der Sammelband das neue Standardwerk für Gertrude Bell und den Irak. Sehr innovativ ist er dort, wo Ansatzpunkte zu komparatistischer Analyse zur Sprache kommen. Insbesondere das Bild von der Region, der Bevölkerung und der Landschaft, lässt sich sehr gut mit dem deutscher Orientreisender, wie etwa Paul Rohrbach oder Ewald Banse, vergleichen. Vor allem die Ansätze Rohrbachs zur zivilisatorischen Entwicklung Mesopotamiens auf Basis des angeblich erkenntnisleitenden Vorbilds der Alten Hochkulturen (Assur, Babylon) gleichen denen Bells auffällig. Dass sie sehr gute Kontakte zu den deutschen Archäologen vor Ort (Andrae, Koldewey) pflegte, verstärkt dieses Bild. Auch die unterschiedlichen Bewertungen der Völker und Staaten in der Region können sehr gut verglichen werden, etwa die Bewertung der Beduinen als "wahre" Träger ursprünglichen Lebens im Gegensatz zu den hybriden und heteronom lebenden Städtern ("Effendis"), insbesondere in der Levante. Die Einschätzungen ähneln sich auch hier im Wesentlichen.
Gertrude Bell war indes im Gegensatz zu den deutschen Orientreisenden ganz praktisch an der Schaffung des irakischen Staates beteiligt. Der geneigte Leser kommt nach der Lektüre des Sammelbands zu dem Schluss, dass das Projekt trotz aller Anstrengungen als gescheitert betrachtet werden muss, da es weder gelang, die widerstrebenden Gruppen im Land in Einklang zu bringen noch die Eliten und das Königshaus auf nachhaltiges Handeln nach den Regeln einer konstitutionellen Monarchie zu verpflichten. Das Land versank nach dem Ende der Mandatszeit 1932 in brutalen Machtkämpfen. Die Lehre aus all dem sollte jedoch nicht sein, das britische Empire ausschließlich für alle nachfolgenden Katastrophen im Irak und dessen Nachbarn anzuklagen, sondern das wechselseitige Bild vom Orient und seinen Menschen einer kontinuierlichen Prüfung zu unterziehen.
Anmerkung:
[1] Thomas Edward Lawrence: Die Sieben Säulen der Weisheit, Berlin 2017, 58-63 und 89 f.
Bernd Lemke