Chelion Begass: Armer Adel in Preußen 1770-1830 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 52), Berlin: Duncker & Humblot 2020, 457 S., 3 Farb-, 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15652-8, EUR 99,90
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Wenn in der Gegenwart von Adel die Rede ist, stellen sich noch immer Assoziationen von Pracht und Luxus, Macht und Privileg ein. Offensichtlich hat die rechtliche Gleichstellung als Staatsbürger und -bürgerinnen, die in Deutschland in der Revolution von 1918/19 vollzogen wurde, an dieser Wahrnehmung, sei es bewundernd oder mit entschiedener Abneigung, nichts geändert. Dass eine solche Vorstellung "des" Adels große Gruppen von Adligen im Preußen der "Sattelzeit" ausblendet, zeigt die sorgfältig gearbeitete, empirisch sehr überzeugende und originelle Studie von Chelion Begass. Ihre aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich "Bedrohte Ordnungen" hervorgegangene Dissertation beschäftigt sich mit dem in Preußen (in den östlichen Provinzen) besonders zahlreichen "armen Adel", d.h. Personen, die zwar über die ständische Qualität "Adel" verfügten, aber ökonomisch zur unteren Mittelschicht oder gleich zur Unterschicht zählten. Für das Anwachsen dieser Gruppe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts macht Begass ungünstige Besitzverhältnisse, aber auch die "Adelsschutzpolitik" Friedrichs II. verantwortlich, der einen "versorgungsabhängigen Dienstadel" vor allem im Militär schuf. Wirtschaftliche Existenz und Familiengründung des Niederadels im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beruhten dann häufig allein auf einer Funktion als Offizier oder Zivilbeamter. Ging diese Position verloren, wie vor allem als Folge der Niederlage Preußens 1806 vielfach zu beobachten, gerieten diese adligen Männer und ihre Familien in eine oft existenzbedrohende Armut, die sich nicht von der "bürgerlicher" Gruppen unterschied. Damit wird einmal mehr deutlich, dass sich ständische Kriterien gesellschaftlicher Ordnung um 1800 generell abschwächten bzw. auf bestimmte Gruppen (adlige Großgrundbesitzer) zurückzogen.
In Preußen wurde Armut um 1800 auch für Adlige zu einem häufigen Merkmal, weil die Schaffung und Förderung eines staatsabhängigen Dienstadels unter ungünstigen Bedingungen erfolgten. Traditionell hingen Adel und Landbesitz als Basis von Herrschaft und Wirtschaft zusammen. Vor allem im Osten der Monarchie befanden sich aber neben Latifundien und substantiellem Großbesitz zahlreiche besonders kleine Rittergüter bzw. nach Erbteilungen nur kleine Grundbesitzanteile, die zur Ernährung einer Familie kaum ausreichten, jedenfalls nicht angesichts mancher Naturkatastrophen, enormer Kriegsschäden oder der grassierenden Verschuldung, die wiederum Investitionen in die Gutswirtschaft erschwerte. Während Friedrichs Politik in der Schaffung eines allein auf den Staat verwiesenen Adels Erfolg hatte und ein Teil der Adligen im Staatsdienst reüssierte, blieb ein anderer Teil in den Krisen des Staates bis 1815 vor allem wirtschaftlich zurück. Gewerbliche, unternehmerische oder kaufmännische Erwerbstätigkeit blieb - jedenfalls als Hauptberuf - für Adlige in Preußen "unstandesgemäß". Der Staat schuf und erhielt sich ein Reservoir von Dienern, die keine anderen Tätigkeiten in Erwägung zogen und dazu auch kaum in der Lage waren. Die Verfasserin nutzt für ihre Darstellung vor allem archivalische Quellen, die sie erstmals auswertet und die insgesamt die geringen Gegenleistungen des Staates für seine ausgemusterten und bedürftigen Offiziere und Zivilbeamten demonstrieren, vor allem die Bittgesuche der Betroffenen und die Bewilligungen oder Ablehnungen der Monarchie durch oft ebenfalls adlige Beamte.
Die Lebensrisiken, die Armut förderten, entsprachen dabei den in Vergangenheit und Gegenwart bekannten Befunden für sämtliche Bevölkerungsgruppen: Alter und Krankheit, Tod des Familienernährers, hohe Kinderzahl und die Abhängigkeit von einer alternativlosen Erwerbstätigkeit im Staatsdienst waren Faktoren, von denen meist mehrere gleichzeitig eintraten. Besonders interessant scheint das Armutsrisiko durch Familiengründung von Offizieren. Obwohl die friderizianische Bürokratie das Problem kannte und de jure Heiratsbeschränkungen für aktive Offiziere in Kraft waren, schloss offensichtlich ein großer Teil der geringbesoldeten Offiziere vor oder nach dem Ausscheiden aus dem Dienst eine Ehe - meist mit einer ebenfalls unbemittelten Offizierstochter. In Existenzschwierigkeiten gerieten dann vor allem diejenigen Familien, in denen der Ehemann verstarb bzw. erwerbsunfähig wurde und die Witwe mit mehreren Kindern zurückblieb.
Die Möglichkeiten, die dem "armen Adel" zur Verbesserung seiner Situation zur Verfügung standen, blieben begrenzt. Wer auswanderte oder doch kommerziell erwerbstätig wurde, verschwand aus dem Fokus der hier untersuchten Quellen. Stattdessen werden Männer, Frauen und Kinder sichtbar, die sich weiterhin auf das Unterhaltsversprechen des preußischen Staates verließen und auf eine freiwillige "Gnadenleistung" hofften. Solche Unterstützung konnte für Männer in einer Zivilanstellung als Subalterner bestehen. Freilich war hier die Konkurrenz mit nichtadligen, oft besser ausgebildeten Bewerbern zu berücksichtigen. Weibliche Erwerbstätigkeit, z.B. als Gouvernante oder Erzieherin, setzte eigene Bildung sowie Jugend und Gesundheit voraus. Institutionelle und nachhaltige Hilfe, z.B. die Unterbringung von Kindern in Waisenhäusern und Erziehungsanstalten oder von Frauen in adligen Damenstiften, stand stets nur äußerst begrenzt zur Verfügung. Manchmal erneuerten die armen Adligen ihre Bitte um staatliche Hilfe über Jahrzehnte hinweg immer wieder. Ohne Alternativen starb die Hoffnung wohl zuletzt.
Insgesamt zeigt sich, dass der preußische Staat bereits um 1800, also in einer "entsicherten Ständegesellschaft", meist geringe Unterstützung nicht für den Adel "als Adel", also wegen der ständischen Qualität, gewährte, sondern ausschließlich mit Blick auf die Funktion für den Staat, also für Offiziere oder Beamte, gelegentlich auch für Grundbesitzer. Häufig konnten daher auch bürgerliche Bittsteller berücksichtigt werden. Am unteren Rand des Adels lebte man in Preußen in den Krisenjahrzehnten um 1800 unter äußerst schwierigen Bedingungen. Eine Standessolidarität über die Kernfamilie hinaus zeigte der Adel nicht: Auch dem grundbesitzenden Adel machte die Krise zu schaffen und darüber hinaus spürten die jeweiligen Familienchefs wohl eine Distanz zu denjenigen adligen Männern, die ihre Existenz allein auf dem Staatsdienst aufbauten, und zwar auch dann, wenn es sich um Träger alter und angesehener Namen handelte.
Die Verfasserin zeigt quellennah, anschaulich und eindrücklich, dass die Misere einer großen Gruppe "des" preußischen Adels als Staatsadel bereits am Ende des 18. Jahrhunderts unübersehbar war. Militärische Expansion und Staatsausbau schufen zwar Subsistenz- und Erwerbsmöglichkeiten für einen Adel, der außer einem Titel nicht viel besaß. Im 19. Jahrhundert ergaben sich damit angesichts des Staatsausbaus und des Aufstiegs Preußens zur europäischen Großmacht zwar auch Chancen. Aber das "Adelsproletariat", das nicht zuletzt aus Frauen bestand, verschwand nicht mehr. [1] Einen zahlenmäßig großen Adel musste der Staat sich angesichts der beschränkten Bodenressourcen und der zunehmenden Konzentration von Reichtum in "bürgerlichen" Händen erst einmal leisten können. Friedrichs Adelsschutzpolitik hatte insofern einen Pfad eingeschlagen, der im 19. Jahrhundert auch den Weg in fundamentale Enttäuschung von Adligen wies.
Anmerkung:
[1] Vgl. die korrespondierende Untersuchung von Johanna M. Singer: Arme adlige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen 2016. Dazu die Rezension von Joachim Schmiedl, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2.
Monika Wienfort