Alexandra Klei / Katrin Stoll (Hgg.): Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941-1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, Berlin: Neofelis Verlag 2019, 263 S., ISBN 978-3-95808-227-4, EUR 29,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Befund des von Alexandra Klei und Katrin Stoll herausgegebenen Sammelbandes ist deutlich und unter Interessierten keine Neuigkeit: Bis auf wenige Ausnahmen sind die räumlichen wie zeitlichen Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs in der Öffentlichkeit unbekannt und unterrepräsentiert. Von daher gehört hinter die titelgebenden "Leerstelle(n)?" eigentlich kein Fragezeichen, sondern ein konstatierender Punkt. Es ist ein Verdienst der Herausgeberinnen, dass der Band vielschichtige Positionen und Themen vereint sowie Leerstellen benennt und analysiert.
Die Breite und Tiefe der insgesamt zehn Beiträge ist bemerkenswert; jeder einzelne Text wirft ein angemessenes Licht auf die zugrunde liegende Fragestellung. Selbst wenn einzelne Beiträge handwerklich wie inhaltlich etwas weniger rund daherkommen, bieten sie genug Substanz, um weitere Fragen und Diskussionen anzuregen. Besonders lesenswert ist der Beitrag von Andreas Hilger zum "Schwierigen Gedenken" (117) an sowjetische Kriegsgefangene in der Bundesrepublik nach 1989. Stärker als die anderen Autor*innen begründet er, warum Wissen wie Erinnerung von "rechtliche[n], finanzielle[n], geschichtspolitische[n und] gesellschaftlich-erinnerungskulturellen[n]" (134) Faktoren bestimmt werden. Zu Recht weist Hilger zudem auf die Kontinuität antislawischer und antisowjetischer Haltungen in Bezug auf die Aufarbeitung wie auch die Anerkennung von Verbrechen hin.
Den Komplex von Antislawismus und Kontinuitäten der NS-Ideologie hebt auch Johannes Spohr in seinem Beitrag zum Terror gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine in den Jahren 1943/44 hervor. Er kann belegen, dass die ungebremste Mordpolitik historiografisch, geschichtspolitisch sowie auch hinsichtlich von Entschädigungszahlungen bis heute ausgeblendet wird. Dabei spielten antislawische Feindbilder im Krieg ebenso eine Rolle wie die verfälschte Historisierung durch hochrangige Angehörige der Wehrmacht und noch heute andauernde "politisch-strategische Erwägungen" (115) dahingehend, welcher Verbrechen gedacht werden soll.
Anhand von Schulbüchern aus fünf Ländern (Belarus, Ukraine, Polen, Deutschland, Frankreich) arbeitet Christine Chiriac heraus, wie nationalgeschichtliche Perspektiven die Deutung des Zweiten Weltkriegs bestimmen - und dies, obwohl der Kanon in den Schulbüchern erstaunlich ähnlich ist. Die Beiträge von Aliaksandr Dalhouski (zu Malyj Trostenec in Belarus), Laura Haendel (zu militärhistorischen Museen in Deutschland), Ulrike Jureit und Andrea Kamp / Babette Quinkert behandeln die Darstellung des Vernichtungskriegs in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten. Kamp und Quinkert berichten über ihre Arbeit an der Ausstellung des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst und vermitteln insbesondere für Museumspraktiker*innen interessante Binnenperspektiven. So führen sie zum Beispiel aus, warum Fotografien als Quelle und mit Nennung der jeweiligen Bildproduzenten gezeigt werden oder die Räume zum Charakter des deutschen Vernichtungskriegs dunkel gestaltet sind. Jureit wiederum begründet, warum die Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung aus ihrer Sicht vor allem auf der generationsbedingten Verschiebung von geschichtswissenschaftlichen Ansätzen beruhen. Auch sie liefert damit ein Argument aus der Innenansicht, das in vielen anderen Debatten um die Wehrmachtsausstellung weniger Beachtung findet.
Ein überzeugendes anthropologisches Deutungsangebot unterbreitet Anna Engelking in ihrem Beitrag zu dörflichen Erinnerungen an den Krieg in der belarussisch-ukrainischen Grenzregion Polesien. Die epische Erzählung der Menschen sei eine "kollektive Selbstdarstellung", ein "Selbstporträt einer Gemeinschaft von Christenmenschen" (180), die dennoch eine "bäuerlich-jüdische 'Schicksalsgemeinschaft'" darstelle (163.) Der bäuerliche Strang erzähle von Tod und Wiedergeburt, der jüdische von Vernichtung. Der eigentliche Antagonismus bestehe jedoch zwischen jenen Dorfbewohnern, die sich laut Erzählung korrekt im Sinne von "moralisch gut" verhalten, und jenen, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hätten. Damit liefert Engelking mikrogeschichtliche Einblicke, die für die Erforschung des Vernichtungskriegs und der Shoah relevant und innovativ sind.
Dagegen bleibt der Mehrwert des topografischen beziehungsweise geografischen Ansatzes zur Erforschung der Erschießungsstätten des Holocaust, wie ihn Konrad Kwiet vorschlägt, etwas unklar. Es ist in wissenschaftlicher Hinsicht zwar anregend, den Tatort Wald aus Täter- wie Opferperspektive zu betrachten und die Dokumentation der Tatorte zu verfolgen. Allerdings stellt Kwiet nicht hinreichend präzise dar, worin genau sich seine Ergebnisse zu Nachkriegszeugnissen und -aussagen (fraglos handelt es sich um faszinierende Quellen) von anderen (nicht-topografischen) Untersuchungen unterscheiden.
Den Sammelband durchzieht die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Befunde und deren Repräsentationen in der Öffentlichkeit auseinanderklaffen. Zudem sind viele der Beiträge ein Beleg dafür, dass der Vernichtungskrieg mit neuen Fragen beforscht werden sollte. Nachholender Bedarf bei Forschung und Vergegenwärtigung wird in dem Band immer wieder zur Shoah in Bezug gesetzt. Vermisst wird eine Vergleichsperspektive mit Verbrechen etwa in Polen, Frankreich oder Jugoslawien: So ließen sich regionale und strukturelle Vergleichsperspektiven anlegen, die unter Berücksichtigung der Besonderheit der Ermordung der Juden weitere Referenzen ins Blickfeld rücken würden. Die Beiträge beantworten die Fragen nach Ort und Zeit der Leerstellen überzeugend, auch die Gründe für deren Entstehen sowie deren Existenz werden in nachvollziehbarer Weise dargelegt. Dennoch hätte der nachdrücklichere Versuch, tagesaktuelle soziologische oder geschichtskulturelle Erklärungen für die konstatierten Leerstellen anzubieten, dem Band gutgetan. Der Frage, warum gerade der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion historisch wie auch in seinen Repräsentationen nicht zentraler behandelt und dargestellt wird, kann nach der Lektüre aber wesentlich zielgerichteter nachgegangen werden.
Daniel Logemann