Nadja Ackermann: Diplomatie und Distinktion. Funktionen eines adligen Selbstzeugnisses der Sattelzeit (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven; Bd. 14), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 287 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51929-2, EUR 50,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jürgen Schmidt: August Bebel - Kaiser der Arbeiter. Biografie, Zürich: Rotpunktverlag 2013
Gerd Behrens: Der Mythos der deutschen Überlegenheit. Die deutschen Demokraten und die Entstehung des polnischen Staates 1916-1922, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2013
Piotr Szlanta: Der »Polenfresser« gegen die »Reichsfeinde«. Kaiser Wilhelm II. und die Polen 1888-1918. Aus dem Polnischen von Matthias Barelkowski , Wiesbaden: Harrassowitz 2022
Peter Hoeres: Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt, München: Oldenbourg 2013
Bettina Weißgerber: Die Iranpolitik der Bundesregierung 1974-1982, München: Utz Verlag 2019
Gegenstand der Fallstudie Ackermanns sind Leben und Karriere des preußischen Diplomaten Jean-Pierre de Chambrier d'Oleyres (1753-1822), eines Adligen aus dem im 18. Jahrhundert zu Preußen gehörenden Fürstentum Neuenburg (Neuchâtel). Dabei geht die Autorin einer mehrschichtigen Fragestellung nach: Was bewog Chambrier d'Oleyres, eine diplomatische Karriere zu verfolgen, die keine finanziellen Erträge brachte, sondern finanzielle Opfer forderte? Welche Distinktionsgewinne hatte er stattdessen im Blick, wie versuchte er diese mit welchem Erfolg zu realisieren? Und was sagt dies letztlich aus in Bezug auf den in der Forschungsliteratur vielfach für die Jahre ab 1750 postulierten Wandel der Außenbeziehungen in Europa? Kann man von einer zweiten Sattelzeit der Diplomatie sprechen (die erste wird für die Zeit um 1500 angesetzt), die schließlich ihren Fluchtpunkt im Wiener Kongress gehabt habe und unter anderem einen diplomatischen Dienst hervorbrachte, der auf professionalisierten Fachdiplomaten gründete?
Die Quellenbasis wie die Herangehensweise der Autorin sind durchaus ungewöhnlich. Hauptquelle sind die Tagebuchaufzeichnungen Chambrier d'Oleyres', die insgesamt 52 Bände à 400 Manuskriptseiten umfassen, die der Diplomat seit Beginn seiner Karriere 1779 mittels fast täglicher Einträge bis kurz vor seinem Tod niederschrieb. Dieses bemerkenswert umfangreiche Ego-Dokument wird praxeologisch analysiert, wodurch nicht mehr Institutionen, Gruppen oder Subjekte den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden, sondern Praktiken und Handlungen. Diese als eine Art modus operandi des Forschens (22) charakterisierte Herangehensweise exerziert die Autorin in ihrer Untersuchung konsequent durch.
Dabei kann sie herausarbeiten, dass es sich bei dem "Journal" Chambrier d'Oleyres' weder um ein intimes Tagebuch im modernen Sinne handelt noch um ein Instrument zur religiös motivierten Selbstkontrolle, wie es im 18. Jahrhundert vor allem in protestantischen Kreisen durchaus verbreitet war. Vielmehr stand das Verfassen des Journals für den Neuenburger Adligen von Anfang an in Zusammenhang mit seiner diplomatischen Karriere und dem Nutzen, den er aus dieser ziehen wollte. Es stellte für Chambrier d'Oleyres ein Art "Buchhaltung des Alltags" (73) dar und erfüllte für ihn, so Ackermann, drei Funktionen: Es diente einmal zur Selbstdisziplinierung im täglichen Umgang mit seinen materiellen und immateriellen Ressourcen in Bezug auf seine Karriere, dann als Möglichkeit, sich retrospektiv selbst hinsichtlich der eigenen Lebensführung zu vergewissern, und schließlich als Möglichkeit der Selbstdarstellung - Tagebücher wurden im 18. Jahrhundert durchaus anderen zugänglich gemacht - als erfolgreicher Akteur auf der Bühne des adligen Statuswettbewerbs.
Denn um Letzteres ging es Chambrier d'Oleyres mit seinem Engagement im diplomatischen Dienst Preußens vor allem. Gemäß seinem von Ackermann herausdestillierten Denkrahmen (Selbstverständnis) wollte er auf der Grundlage einer personalen Gabentauschbeziehung mit dem preußischen König für seinen Dienst mit symbolischem Kapital entlohnt werden. Dieses sollte dazu dienen, die Position seiner Familie in der ständischen Gesellschaftshierarchie zu verbessern, aber auch seine persönliche Stellung innerhalb des Familienverbandes zu heben und ihn bestenfalls zu einer Art Familienoberhaupt werden zu lassen. Chambrier d'Oleyres erwies sich bei diesem doppelten Distinktionsstreben als durchaus erfolgreich. Bereits 1786 wurde der Freiherrenstatus der Gesamtfamilie vom preußischen König bestätigt, 1799 erfolgte die Aufnahme Jean-Pierre Chambrier d'Oleyres' in den preußischen Roten Adlerorden und 1806 gelang es dem Neuenburger Diplomaten, seinen Adoptivsohn Frédéric-Alexandre zum preußischen Legationsrat aufsteigen zu lassen, um nur einiges zu nennen.
Der von Adligen wie Chambrier d'Oleyres aus Standesbewusstsein heraus als freiwillig stilisierte und letztlich wenig formalisierte Fürstendienst barg jedoch Risiken. Vor allem konnte vom König die Entlohnung des Dienstes mit symbolischem Kapital nicht verpflichtend eingefordert werden, es war allenfalls möglich, diesen an seine Verpflichtung zu erinnern. Deren Erfüllung konnte daher dauern, mitunter erfolgte diese erst gegenüber einer nachfolgenden Generation der Familie des fürstlichen Dieners. Um die Risiken des diplomatischen Fürstendienstes abzumildern und seinen Einfluss abzusichern, bemühte sich Chambrier d'Oleyres, persönliche Beziehungen zur Berliner Zentrale, etwa zum Kabinettsminister von Hertzberg, zu verstetigen und auch über die rein dienstliche Sphäre hinaus zu etablieren. Da dieses System aber wegen möglicher Amtsentlassungen oder aufgrund von Todesfällen der Kontaktpersonen unsicher blieb, versuchte Chambrier d'Oleyres zudem, seine Beziehungskanäle nach Berlin zu institutionalisieren. Dem diente die Gründung einer Vaterländischen Gesellschaft im Fürstentum Neuenburg 1791, die seine Familie letztlich kontrollierte. Diese Gesellschaft sollte in direkten Kontakt und Austausch mit der Berliner Akademie der Wissenschaften stehen, wodurch ein stetiger Austausch der Familie Chambrier d'Oleyres mit Berlin unabhängig vom einzelnen Amtsträger möglich wurde.
Doch auch vordergründiger Erfolg konnte letztlich eine Gefahr für die positive Gesamtbilanz einer adligen Diplomatenkarriere bedeuten. So sollte Chambrier d'Oleyres 1785 an den Wiener Hof versetzt werden. Auf den ersten Blick war dies eine Beförderung. Sie hatte jedoch den Nachteil, dass dieser Posten für den Gesandten mit der Verpflichtung zu wesentlich höherem demonstrativen Konsum verbunden und damit kostspieliger war als Chambrier d'Oleyres' damalige Stellung als preußischer Vertreter am Hof des Königs von Sardinien in Turin. Eine Stellung in Wien hätte die finanziellen Möglichkeiten des Neuenburger Adligen letztlich deutlich überschritten. Nur mit Mühe gelang es dem Gesandten bei Wahrung seines Ansehens, seine Belassung in Turin erreichen, einen Posten, den er schließlich rund 20 Jahre bis 1798 innehaben sollte.
Letztlich macht Ackermanns Studie deutlich, dass Chambrier d'Oleyres als Diplomat kein Vertreter des Typs der modernen Fachdiplomaten war. Sein Denken und Handeln war ständisch geprägt und auf die personale Dienstbeziehung zum König ausgerichtet, nicht bezogen auf ein abstraktes Staatswesen. Insofern blieb er ein Kind des Ancien régime. Zwar sind Elemente zur Entpersonalisierung der Handlungsstrukturen auch bei Chambrier d'Oleyres erkennbar, etwa beim Versuch der Institutionalisierung seiner Beziehungen nach Berlin. Doch blieben dies allenfalls Ansätze, die keine grundsätzliche Veränderung seines Denkrahmens provozierten. Inwieweit die Ergebnisse dieser in ihrer Art bislang weitgehend singulären Studie durch künftige Forschungen bestätigt werden, bleibt abzuwarten, die Autorin zeigt sich hierin optimistisch. Insofern sieht Ackermann ihre Resultate auch als Bestätigung für die These von der Existenz einer zweiten Sattelzeit der Außenbeziehungen um 1800 an und plädiert dafür, diese noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu verlängern. Doch dies müsste erst noch durch Untersuchungen über andere Bereiche der Außenbeziehungen im 19. Jahrhundert bestätigt werden.
Martin Furtwängler