Norbert Kersken / Przemysław Wiszewski: Neue Nachbarn in der Mitte Europas. Polen und das Reich im Mittelalter (= WBG Deutsch-Polnische Geschichte; Bd. 1), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020, 268 S., ISBN 978-3-534-24762-2, EUR 39,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen fanden, bezogen auf das Mittelalter, in der deutschsprachigen Forschung noch nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen aufgrund ihrer Bedeutung zukommt. Gewiss liegen aus den letzten Jahrzehnten Arbeiten unterschiedlichen Umfangs vor, die, teilweise neben anderen Fragestellungen, das deutsch-polnische Verhältnis für bestimmte Zeiträume oder unter bestimmten Blickwinkeln - Ereignisse, Personen, Orte, Diskurse - behandeln. Doch fehlt es an synthetisierenden Überblicksarbeiten, die ebenjene deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen in der longue durée für den gesamten mittelalterlichen Zeitraum vom 10. bis zum frühen 16. Jahrhundert in den Blick nehmen. Ein solch synthetischer Überblick liegt mit der zu besprechenden Arbeit nun vor, der überdies die aktuelle deutsch- und polnischsprachige Forschung aufgreift.
Natürlich kann ein derartiger Überblick nicht alle Aspekte, welche die deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen geprägt haben, in gleicher Intensität in den Blick nehmen. Trotzdem wird das Thema in konziser Form aufbereitet und präsentiert, was auch dem Aufbau des Bandes zu verdanken ist. Der Gesamtkonzeption der WBG-Reihe Deutsch-Polnische Geschichte entsprechend wird in einem ersten Teil ein "Überblick" geboten, während im zweiten Teil "Fragen und Perspektiven" behandelt werden. Demgegenüber ist das Quellen- und Literaturverzeichnis, anders als in den ähnlich strukturierten Einzelbänden der bewährten Reihe Enzyklopädie deutscher Geschichte, relativ knapp gehalten, verzeichnet lediglich ausgewählte deutschsprachige Titel. Auch daran wird deutlich, dass es den Verfassern Norbert Kersken und Przemysław Wiszewski, der Konzeption der Gesamtreihe entsprechend, vor allem darum ging, eine auf breitere Leserkreise zielende Darstellung zu verfassen.
Beeindruckend ist der hohe analytische Ansatz ebenjener Darstellung, der in der überaus problemorientierten Einleitung vorgestellt wird. Die durch das Thema naheliegende chronologische Struktur des im ersten Teil präsentierten Überblicks gewinnt durch die Unterscheidung von fünf Räumen, in denen sich Beziehungen und Verflechtungen ganz konkret artikulierten, an Tiefenschärfe. Als entsprechende Räume werden Sachsen im Sinne des alten Herzogtums, der Raum zwischen Elbe und Oder, Schlesien, das Preußenland sowie die Kernräume piastischer bzw. jagiellonischer Herrschaft benannt. Dem eigentlichen chronologischen Überblick werden relativ knappe Überlegungen zu "Räumen, Grenzen, Territorien, Menschen" im gesamten zu behandelnden Zeitraum vorangestellt. Der chronologische Überblick unterscheidet im Folgenden, wesentliche Entwicklungslinien im interessierenden deutsch-polnischen Verhältnis strukturierend, drei zeitliche Perioden: die Anfänge politischer Kontakte zwischen Konflikt und Kooperation (Mitte 10. bis Mitte 12. Jahrhundert), Regionalisierung und Herrschaftsverdichtung (Mitte 12. bis 14. Jahrhundert), die Jagiellonen und die Großdynastien im Römisch-Deutschen Reich (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhundert). Je nach zu behandelnder zeitlicher Ebene werden die genannten fünf Räume in unterschiedlicher Gewichtung in den Blick genommen. Beschlossen wird der Überblicksteil durch ein Kapitel, in welchem verschiedene soziale Trägergruppen in ihren wechselseitigen Beziehungen vorgestellt werden (Adel und Dynastien, Städte und Bürgertum sowie Wirtschaftseliten, Bauern und ländliche Siedlung, Kirche und Klerus). Diese Perspektive erlaubt es - jenseits der bisherigen chronologischen oder räumlichen Perspektive - wesentliche Phänomene der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zu problematisieren: etwa das adlige Konnubium, die Bedeutung der Neu- und Umgründung von Städten zu Magdeburgischem Recht, die deutschrechtliche Siedlungsbewegung oder die Bedeutung der Ordensgemeinschaften.
Im zweiten Teil des zu besprechenden Bandes werden unter "Fragen und Perspektiven" neun Themenfelder problematisiert, die für die deutsch-polnischen Beziehungen im Mittelalter, aber auch weit darüber hinaus bis in die Gegenwart reichend von besonderer Bedeutung sind. Dabei werden zunächst historiografische und forschungshistorische Streitfragen behandelt (etwa die anachronistische Diskussion des "staatsrechtlichen" Verhältnisses von Polen und dem Reich, die Bewertung des hochmittelalterlichen Landesausbaus in nationaler Verengung als "deutsche Ostsiedlung"). Großen Raum nehmen weiterhin, den Forschungsschwerpunkten der Verfasser geschuldet, die Bedeutung Schlesiens als Kontaktraum und der hochmittelalterliche Landesausbau ebenda ein. Das bis in die aktuelle Forschung intensiv diskutierte Thema des Verhältnisses zwischen dem Deutschen Orden einerseits und der polnischen Krone andererseits wird dagegen in einem Überblick relativ knapp problematisiert. Weitere strukturanalytische Fragenstellungen zielen auf die Bedeutung der adligen und der Fürstenhöfe für die wechselseitige Kommunikation sowie auf die jüdische Bevölkerung im Reich sowie im piastischen bzw. jagiellonischen Polen. Dem Gegenstand entsprechend umfangreich ist die Diskussion von Verflechtungs- und Beziehungsprozessen in den Bereichen von Bildung, Wissenschaft und Kultur. Angesprochen werden hier unter anderem die Bedeutung der Universitäten sowie der kunsthistorischen Wechselwirkungen, die sich, wie zu Recht hervorgehoben wird, einer jeden bilateral-nationalen Zuschreibung oder Vereinnahmung entziehen.
Die letzten beiden Kapitel aus dem Bereich "Fragen und Perspektiven" widmen sich den wechselseitigen nationalen Wahrnehmungen und Stereotypenbildungen sowie, darauf aufbauend, den Mittelalterbildern in den deutschen und polnischen Erinnerungskulturen. Dabei wird die Ausbildung der Stereotypen anhand einer breiten Quellenbasis anschaulich herausgearbeitet. In der abschließenden Diskussion der Mittelalterbilder werden dann Grundlinien in der historisch-politischen Diskussion der Geschichtswissenschaft, in der historischen Belletristik sowie in der Veranschaulichung historischer Personen, Ereignisse und Konstellationen im öffentlichen Raum skizziert.
Der gewählte Ansatz, zunächst in einem vielschichtigen historischen Überblick, dann strukturgeschichtlich anhand ausgewählter Themenbereiche knapp sechs Jahrhunderte der mittelalterlichen deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen zu präsentieren, ist gut gelungen. Wie bereits einleitend angemerkt, erzwang die Breite der zu behandelnden Themen notwendigerweise Schwerpunktsetzungen. Entsprechend ist im zweiten Teil des Bandes schon aufgrund der Auswahl der zu behandelnden "Probleme und Perspektiven" ein gewisses Übergewicht der "piastischen" Jahrhunderte zu konstatieren. Trotzdem steht außer Frage, dass die Synthese von Kersken und Wiszewski die weitere Auseinandersetzung mit den deutsch-polnischen Beziehungen und Verflechtungen bereichern und mitprägen wird - gerade auch über die engeren historischen Fachwissenschaften hinaus.
Stephan Flemmig