Jürgen Finger / Benjamin Möckel (Hgg.): Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert. Eine Anthologie, Göttingen: Wallstein 2022, 255 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8353-5200-1, EUR 25,00
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Die Sammlung von 21 Aufsätzen ist das Ergebnis eines dreijährigen Projekts, das von der DFG gefördert wurde. Dies lief in der Form eines wissenschaftlichen Netzwerks mit Workshops zum Thema "Moral und Ökonomie. Normativität und Wirtschaftshandeln im 'langen' 20. Jahrhundert" ab. Die teilnehmenden Historikerinnen und Historiker stammten aus acht deutschen Universitäten sowie aus Paris, Utrecht, Fribourg und Zürich.
Nach dem traditionellen Inhaltsverzeichnis folgt eine ungewöhnliche "Gebrauchsanweisung", in dem die Problemfelder und Schlüsselbegriffe in den Texten rot markiert sind. Darin werden diese mit Unterbegriffen zusammen mit den Autorinnen und Autoren aufgeführt: Bedürfnis, Pflicht, Nutzung, Preis, Innovation und Verdienst. Der normalerweise am Schluss des Buches stehende Index wird dadurch (scheinbar) obsolet gemacht. Jeder Aufsatz beginnt mit einer meist farblich abgebildeten Quelle, z.B. einer Karikatur oder Werbeanzeige, die im Folgenden diskutiert wird. Am Aufsatzende befindet sich jeweils ein Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur. Der Zeitrahmen beginnt mit dem späten 19. und endet mit dem frühen 21. Jahrhundert. Im Vordergrund stehen die Verhältnisse in Deutschland. Der Blick gilt aber auch den Entwicklungen in anderen europäischen (Holland, Frankreich, Großbritannien) und afrikanischen Ländern (Südafrika, Tansania).
Die theoretischen Überlegungen, die die Herausgeber zu "Ökonomie und Moral" in ihrer längeren Einleitung anstellen, gehen von einer kleinen, aber verblüffenden "Autobiographie" eines Bleistifts aus. Damit kommen Jürgen Finger und Benjamin Möckel schnell zu einigen frühen Klassikern ökonomischen und ethischen Denkens: "Der erzählende Bleistift, die Stecknadeln Adam Smiths oder Bernard Mandevilles Bienenstock waren und sind einflussreiche Formen der Popularisierung des ökonomischen Denkens, die abstrakte Konzepte wie Markt, Produktivität und Arbeitsteilung veranschaulichen und ihnen einen gesellschaftlichen Sinn zuschreiben" (11f.).
Die zentrale These, die die Herausgeber dem ganzen Buch zuweisen, besagt: "dass nämlich Ökonomie und Moral gerade nicht als Gegensätze oder getrennte Sphären zu verstehen sind, sondern moralische Bezugsrahmen dem Sprechen über und Handeln in der Ökonomie von Beginn an und beinahe unweigerlich eingeschrieben sind. Individuen, soziale Gruppen und Gesellschaften artikulieren moralische Präferenzen angesichts von ökonomischen Handlungsoptionen..." (13).
Dementsprechend finden sich im Sammelwerk auch Aufsätze über Einzelpersonen, darunter Vertreter eines meist ungebremsten Kapitalismus'. Dazu zählt der Beitrag von Sören Brandes über John Bates Clark (1847-1938), den amerikanischen christlichen Kapitalisten und Schöpfer der Grenzproduktivitätstheorie. Clark fand, dass "jeder Produktionsfaktor (etwa ein Arbeiter oder eine Kapitaleinheit) tendenziell das erhält, was 'er' selbst zur Produktivität eines Unternehmens beiträgt" (56), was mit Karl Marx kritisch zu hinterfragen bleibt. Catherine Davies hat den skrupellosen New Yorker Börsenfürsten und Eisenbahnkönig James Fisk (1834-1872, erschossen aus Eifersucht!) und die Verbindungen zwischen Wirtschaft und damaliger Politik im Visier. Sie weist darauf hin, dass die Methoden solcher amerikanischen "Robber Barons" damals im Deutschen Reich allerdings nicht gängig waren (103).
Liesbeth van de Grift, Professorin an der Universität Utrecht, diskutiert soziale und Eigentumsfragen, die sich bei dem großen holländischen Landgewinnungsprojekt ergaben. Noch während des Ersten Weltkrieges hatte das niederländische Parlament das sogenannte Zuiderzee-Gesetz verabschiedet, dessen Durchführung bis in die 1970erJahre dauern sollte. Mit Hilfe von jungen Menschen sollte der Natur nicht nur neues Land abgewonnen werden, sondern der Staat im Wege des Social Engineering die Eigentumsfrage im Wesentlichen über ein Zeitpachtsystem regeln. Bei der kritischen Auswahl der Kolonisten spielten Ausbildung, Erfahrung, eigene finanzielle Mittel, aber auch Innovationsgeist und soziales Engagement für die Gemeinschaft eine Rolle (138). Van de Grift meint, dass das Zuiderzee-Projekt technisch und wirtschaftlich ein Erfolg gewesen sei, der "Aufbau einer neuen Gesellschaft ohne die Übel der alten" aber letztlich utopisch blieb (137).
Reinhild Kreis befasst sich mit den Problemen des Unterhalts von Wohnungen im Realsozialismus der DDR, die durch Reparaturstützpunkte der Kommunalen Wohnungsverwaltungen - und die sozialistischen "Hausgemeinschaften" - gelöst werden sollten. Über die Mängel dieser Institutionen spottete noch 1985 das Satire-Magazin "Eulenspiegel": Das Netz von Reparaturstützpunkten hätte "ebenso viele Schwachstellen wie das Rohrleitungssystem" (166). Leider fehlt hier ein Vergleich mit dem großen "Bruder" im Osten.
Der Beitrag von Timo Luks weitet wieder den Blick, und zwar auf Vorstellungen von dem zusätzlichen, immateriellen Wert einer Ware, die (noch) in Afrika - neben dem westlichen, rein monetären (Markt-)Wert - anzutreffen wären. Er bezieht sich dabei auf die empirischen Forschungen der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas (1921-2007). Diese haben laut Luks bei der Diskussion des Problems des Geldes dazu beigetragen, "die Unterscheidung von Waren- und Gabenwirtschaft, von Subsistenz- und Marktökonomie zumindest zu hinterfragen" (194).
Bis in die jüngste Gegenwart führt der Aufsatz von Jürgen Finger zu unseren westlichen Nachbarn. Ausgelöst von einer staatlichen Erhöhung der CO2-Steuer, wurde die Protestbewegung der Gelbwesten, Gilets Jaunes, als ein Kampf um "Gerechtigkeit der Verteilung von Lasten und Chancen" wahrgenommen und damit grundsätzlich der Staat mit seinen Einrichtungen als Organisator dieser Verteilung in Frage gestellt (121).
Mit diesen Beispielen kann nur die Vielfalt der ökomischen, sozialen und philosophischen Fragen angedeutet werden, die in diesem Sammelband diskutiert werden. Das lange 20. Jahrhundert ist bei weitem noch nicht zu Ende, die Fragen mit empirischen Befunden nicht beantwortet. Das Buch macht deutlich, wie hilfreich die darin zitierten Klassiker des ökonomischen und sozialen Denkens - vor allem Adam Smith, Karl Marx, Georg Simmel, Max Weber und Karl Polanyi - immer wieder sind. Die Autorinnen und Autoren haben die einschlägige englisch- und französischsprachige Literatur rezipiert.
Was der Rezensent vermisst hat, sind die nur selten ausgeführten Vergleiche des behandelten Landes mit anderen Ländern. Ein Sachregister am Schluss hätte er sich - trotz der o.a. "Gebrauchsanweisung" - dennoch gewünscht. Die Anordnung der Texte in zwei Spalten ermöglichte einerseits, mehr Inhalt unterzubringen, andererseits erschwerte sie durch die kleinere Schrifttype etwas das Lesen. Insgesamt kann das aber nicht den bedeutenden wissenschaftlichen und didaktischen Wert dieses Sammelwerkes schmälern.
Ekkehard Henschke