Roman Loimeier: Ethnologie. Biographie einer Kulturwissenschaft, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2021, 403 S., ISBN 978-3-496-01666-3, EUR 29,90
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Dieses Buch des Göttinger Ethnologen und Islamwissenschaftlers Roman Loimeier bietet einen wichtigen und lesenswerten Überblick über die Geschichte derjenigen Wissenschaft, die es sich zu ihrer zentralen Aufgabe gesetzt hat, andere Kulturen zu analysieren und zu entschlüsseln, Fremdheit und das Verstehen des Anderen wissenschaftlich anzugehen. Lange wurden Studierende hierzulande mit der längst überholten und inhaltlich problematischen Geschichte der Anthropologie von Wilhelm Mühlmann traktiert, die zudem jüngere Trends nach dem Zweiten Weltkrieg allenfalls ansatzweise vorstellte. Dieses Desiderat ist durch Roman Loimeiers neues Überblickswerk nicht nur gefüllt, sondern der Autor setzt damit neue Maßstäbe. Es handelt sich um mehr als nur eine einführende Geschichte der Ethnologie, denn diese Studie bietet eine Ethnologie der EthnologInnen. Loimeier geht über die Vorstellung grundlegender Konzepte und Forschungsansätze hinaus, indem er die teilweise sehr persönlichen Motive und Forschungsinteressen der EthnologInnen thematisiert - und sich selbst dabei keineswegs ausnimmt. Schließlich unterscheidet sich die Ethnologie von ihren Nachbarfächern durch ihr Interesse für das Fremde, aber auch für das Eigene, das durch die Erfahrung des Fremden selbst als "fremd" erfahren werden kann. Darum kritisiert Loimeier die Konzentration auf besonders prominente Figuren wie Malinowski oder Lévi-Strauss und gibt "Außenseitern" wie Frank Hamilton Cushing angemessenen Raum. Schließlich sind EthnologInnen in gewissem Sinn immer Außenseiter, weil sie sich weiter als andere auf das Fremde einlassen. Aus diesem Grund werden auch die persönlichen Feindschaften, die - meist linken - politischen Ansichten und die Lebenserfahrungen der EthnologInnen ausführlich behandelt, und damit wird die ethnologische Perspektive auf die EthnologInnen selbst gerichtet.
Während derartige Überblicke meist die divergente Entwicklung der Ethnologie in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in den USA thematisieren, behandelt Loimeier auch Italien, wohingegen er offen die Defizite seiner Darstellung anspricht und ihre Vorläufigkeit betont, da eine Geschichte der Ethnologie ohne die Einbeziehung der Fachentwicklung in Japan, Indien, Rußland, in den afrikanischen Ländern und Lateinamerika nicht vollständig sein kann. Auch die Ethnologien in den "kleineren" europäischen Ländern auf dem Balkan, in Skandinavien, in den Beneluxstaaten und auf der Iberischen Halbinsel müssten aufgearbeitet werden, das wäre aber für ein Einführungsbuch wie das vorliegende sicher zu viel verlangt.
Die Kapitelgliederung folgt der Chronologie, ist aber gleichzeitig nach Ländern unterteilt, so dass die Gesamtentwicklung des Faches, insbesondere die Abfolge der methodisch-theoretischen Ansätze behandelt wird, die Ethnologien der einzelnen Länder aber in sich geschlossen zur Darstellung kommen. Dabei folgt Loimeier keiner naiven nationalgeschichtlichen Perspektive, sondern betont immer wieder die wechselseitigen Einflüsse und Einwirkungen, durch Studien im Ausland, Flucht, Vertreibung und Emigration. Dies wird insbesondere deutlich am prominenten Beispiel von Franz Boas, der als deutscher Jude wegen der Aussichtslosigkeit einer wissenschaftlichen Karriere in seinem Heimatland in die USA ging und dort der Gründervater der Kulturanthropologie wurde.
Insgesamt betont Loimeier die tragende Rolle jüdischer Wissenschaftler in der Ethnologie, was mit deren Verfolgungs- und Diskriminierungserfahrung und der daraus resultierenden Sensibilität zusammenhängt, die ihr Verständnis fremder Kulturen förderte. Ebenso werden die Beiträge und Leistungen von ForscherInnen umfassend gewürdigt, die in der älteren Literatur systematisch vernachlässigt wurden oder sogar unbeachtet blieben. Im Fall der amerikanischen Kulturanthropologie wird deren Gründervater Franz Boas ausführlich vorgestellt, aber seine "Schule" eher dekonstruiert, indem Loimeier auf die verschiedenen Ansätze und die Vielfalt der Lehrmeinungen in der zweiten und dritten Generation eingeht.
Die Bedeutung von Malinowski für die Herausbildung von Feldforschung und Schulbildung in der britischen Sozialanthropologie wird konstatiert, gleichzeitig aber relativiert, indem Loimeier darauf hinweist, dass wichtige Entwicklungen wie die stationäre Feldforschung oder der Begriff "Social Anthropology" schon vor Malinowski etabliert waren. Auch werden die theoretischen Defizite von Malinowskis Funktionalismus benannt, insbesondere die fehlende historische Perspektive und der holistische Ansatz, eine Gesellschaft als in sich und nach außen abgeschlossen zu betrachten. Erst nach Malinowski, insbesondere unter dem Einfluss von Evans-Pritchard, öffnete sich die britische Sozialanthropologie stärker für die Geschichte und die Wahrnehmung des historischen Wandels. Demgegenüber analysierte Mary Douglas die Kontexte und Strukturen, die das Denken beeinflussen.
Der Rolle des Gründervaters Boas in den USA entsprach diejenige von Emile Durkheim in Frankreich. Dies hatte Folgen, da Durkheims theoretische Interessen sich bei seinen Schülern zunächst fortsetzten. Im Gegensatz zur amerikanischen und britischen blieb die französische Ethnologie darum lange theoretisch ausgerichtet, während der empirischen Forschung ein deutlich untergeordneter Stellenwert zukam. Gleichzeitig waren die Berührungsängste der EthnologInnen mit der kolonialen Herrschaft und Verwaltung von Anfang an geringer, wobei die britischen Kollegen bald aufholten und ihre Wissenschaft ebenfalls als "anwendungsorientiert" verstanden.
Die Vertreibung und Flucht zahlreicher jüdischer EthnologInnen aus Deutschland, in erster Linie in die USA, führte - ebenso wie die ideologische Nutzbarmachung der Ethnologie für die Rassenlehre der Nationalsozialisten - zu einer lang anhaltenden Orientierungslosigkeit der deutschen und österreichischen Ethnologie, die bis in die 1960er Jahre noch überdeckt wurde durch die Kontinuitäten und das Beharren auf mittlerweile altbackenen und überholten Traditionen, für die Lehrstuhlinhaber sorgten, die die "Entnazifizierung" meist unbeschadet überstanden hatten. Diese Ethnologiegeschichte umgeht nicht den Rassismus prominenter deutscher Ethnologen wie Richard Thurnwald, Wilhelm Mühlmann oder Hermann Baumann, sondern spricht ihn und ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus offen an.
Loimeiers Darstellung unterscheidet sich von anderen nicht zuletzt darin, dass er der italienischen Ethnologie, die sonst nur am Rande erwähnt wird, ein ganzes Kapitel widmet und deren eigenes Profil herausarbeitet. Denn die großen regionalen und ökonomischen Unterschiede, insbesondere das Nord-Süd-Gefälle, hatten eine stärkere Fokussierung auf das "Fremde" im eigenen Land, insbesondere in Süditalien und Sizilien, zur Folge. Auch war der Einfluss des Marxismus auf die Ethnologie ausgeprägt, wie sich an der Langzeitwirkung von Antonio Gramscis Schriften zeigt. Loimeier weist darauf hin, dass die "subaltern studies" in Indien wichtige Impulse aus Italien, namentlich von Gramsci, erhielten.
Deutliche Kritik übt der Autor an neueren Erscheinungen, die er als Fehlentwicklungen wahrnimmt, etwa die wachsende Dominanz von "political correctness" und dadurch verhängte Tabus, bestimmte Themen überhaupt noch anzusprechen. Loimeier betont auch die häufig anzutreffende Kritik von EthnologInnen an ihren Altvorderen, was einerseits leicht als Profilierungsstrategie durchschaut werden kann, auf der anderen Seite für die Weiterentwicklung des Faches spricht. Für HistorikerInnen, die notorisch traditionsverhaftet und ihren Lehrern gegenüber loyal sind, eröffnen sich hier Einblicke in andere Formen des Umgangs mit den facheigenen Traditionen und hier werden Möglichkeiten aufgezeigt, diese als "fremd" wahrzunehmen und zu kritisieren. Überraschen wird manche HistorikerInnen auch, dass Loimeier Marc Bloch für die Ethnologie in Anspruch nimmt, der für die HistorikerInnen als einer der innovativen Vertreter ihres eigenen Faches galt - gerade deswegen, möchte man hinzufügen. Demgegenüber relativiert Loimeier Clifford Geertz deutlich, indem er die vielfache Kritik an dessen Ansätzen und Forschungsergebnissen präsentiert und auch damit den HistorikerInnen in ihrem Geertz-Hype einen Dämpfer verpasst.
Loimeier kritisiert die einseitige Betonung von "Agency", die vor allem von gegenwärtigen amerikanischen ForscherInnen vertreten werde, und letztlich ein Spiegelbild des individualistischen Selbstverständnisses der Amerikaner sei, während soziale Prozesse und die Einbindung der Individuen in eine soziale und kulturelle Umwelt vernachlässigt werden. Auch dies ist eine wichtige Botschaft an die HistorikerInnen, bei denen sich diese einseitige Prämiierung von "Agency" ebenfalls weitgehend durchgesetzt hat, was oft zur Unterschätzung kolonialer Gewaltstrukturen führt und den lokalen Akteuren in fragwürdiger Weise Handlungsspielräume zuschreibt, die tatsächlich viel enger umrissen waren - schließlich war koloniale Herrschaft eben Herrschaft.
Die euro- oder amerikazentrischen Einseitigkeiten werden in einem Kapitel angesprochen, in dem Loimeier die Grundlagendispute innerhalb des Faches behandelt, an denen Ethnologen aus anderen Teilen der Welt maßgeblich beteiligt waren. Damit wird die Perspektiv- und Positionsabhängigkeit der Ethnologie als einer hermeneutischen Wissenschaft abermals sichtbar. So ist es nur konsequent, wenn er abschließend die Ethnologie als eine Wissenschaft neu fasst, die auf Dialog angelegt ist, wenn sie sich ihre Innovationskraft bewahren möchte. Eine dialogische Ausrichtung wäre, wie man nach der Lektüre des Buches resümieren möchte, für die Ethnologie durchaus ein neuer Weg.
Schon Franz Boas sah ethnologische Forschung als Rettungsaktion an, um Informationen über angeblich verschwindende Kulturen für die Nachwelt zu sichern. Tatsächlich hat sich die Ethnologie lange in dieser methodisch wie theoretisch höchst problematischen Illusion eingerichtet, sie untersuche zeitlose Gesellschaften bzw. Kulturen, die sie darum auch im ethnologischen Präsens beschrieb, statt diese Gesellschaften als historisch und wandelbar wahrzunehmen. Loimeier plädiert in seinem Schlusskapitel eindringlich dafür, derartige Einseitigkeiten aufzugeben, da kultureller Wandel gerade nicht zu einem globalen Einerlei führt.
Die Darstellung in insgesamt 20 Kapiteln wird ergänzt durch einen Anhang mit insgesamt 105 Kurzbiographien von EthnologInnen sowie inhaltsreichen und lesenswerten Fußnoten, die sich keineswegs auf Literaturnachweise beschränken, weshalb sich diese Studie auch gut als Nachschlagewerk eignet. Loimeier hat eine ausgezeichnete Einführung für Studierende in die Geschichte ihres Faches und für HistorikerInnen einen Leitfaden durch ein Nachbarfach vorgelegt, dessen namhafte Vertreter seit dem "cultural turn" von HistorikerInnen oft zitiert werden, ohne dass sie immer in der Lage sind, diese innerhalb der Ethnologie angemessen einzuordnen.
Christoph Marx