Till-Holger Borchert / Jan Dumolyn / Maximiliaan Martens u.a. (Hgg.): Van Eyck. Eine optische Revolution, Stuttgart: Belser Verlag 2020, 490 S., 350 Farbabb., ISBN 978-3-7630-2857-3, EUR 98,00
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Jan Dumolyn / Jelle Haermers / Hipólito R.O. Herrer et al. (eds.): The Voices of the People in Late Medieval Europe. Communication and Popular Politics, Turnhout: Brepols 2014
Neue Publikationen mit substanziellen Erkenntnissen über prägende Figuren der europäischen Kunst sind äußerst rar, da zu solchen Themen - zumindest scheinbar - alles Wesentliche schon gesagt wurde. In diese Kategorie gehört der Band "Van Eyck. Eine optische Revolution", der 2020 anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Genter Museum der Schoone Kunsten erschien. Bei der visuell imposanten, gut 500 Seiten umfassenden Veröffentlichung handelt es sich jedoch nicht um einen Katalog im engeren Sinn, sondern um eine Aufsatzsammlung. Sie enthält insgesamt 18 Essays, in denen das Phänomen van Eyck aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Die Aufsätze wurden dabei in vier Gruppen eingeteilt, die sich mit dem historischen Kontext, der kunsthistorischen Einordnung, der Ikonografie, der künstlerischen Auswirkung und der sogenannten "optischen Revolution" der Kunst van Eycks beschäftigen. Im Folgenden wird versucht, einen Überblick über die ersten beiden Teile des Buches zu geben, die seinen inhaltlichen Kern bilden.
Der titelgebende Aufsatz stammt aus der Feder von Maximiliaan Martens. Der Ausgangspunkt für Martens' Überlegungen sind zwei Bemerkungen des italienischen Humanisten Bartolomeo Fazio in seiner Schrift De viris illustribus. [1] Dieser meint, van Eyck habe die Werke antiker Autoren, insbesondere Plinius' des Älteren, gekannt, und sei in der Geometrie und den sogenannten artes liberales besonders versiert gewesen. [2] Martens zufolge gibt es in van Eycks Kunst tatsächlich Hinweise dafür, dass er zumindest mit den Schriften Plinius' des Älteren vertraut war (142-160). So beklagt Plinius etwa den Rückgang des Naturalismus in der römischen Porträtskulptur. Zudem verweist Martens darauf, dass auch der Burgunderherzog Philipp der Gute, der wichtigste Unterstützer des Malers, sich selbst immer wieder mit Alexander dem Großen verglich (155-160). Es sei daher vorstellbar, dass van Eyck sich als den flämischen Apelles sah, als der er von späteren Autoren bezeichnet wurde.
Was van Eycks optische Kenntnisse angeht, beruft sich Martens auf Marc de Mey, der die Zusammenhänge zwischen der Kunst van Eycks und den Erkenntnissen des arabischen Gelehrten Al Hazen erforscht. [3] Al Hazen beschrieb nämlich zahlreiche optische Phänomene, die bei van Eyck relavant sind, darunter Lichtreflexion, -brechung und -streuung. Die scholastische Al Hazen-Rezeption könnte daher eine Erklärung für die in der bisherigen Forschung noch kaum thematisierten Parallelen zwischen van Eycks Stil und Leon Battista Albertis Postulaten sein, die dieser 1435 in seiner kunsttheoretischen Schrift De Pictura festhielt. [4]
Brillant ist auch Matthias Depoorters' Beitrag, in dem der Autor seine Gedanken zu Jan van Eyck als Entdecker der Natur festhält. Depoorter verweist darauf, dass der Künstler Landschaftsdetails wie Hochgebirge, Felsformationen oder Pflanzen beinahe mit wissenschaftlicher Akribie abbildete (205). Allerdings fügt er hinzu, dass van Eyck sich mitunter dennoch Ungenauigkeiten erlaubte (205). So malte er etwa Lilien oft mit vier oder fünf Staubblättern, obwohl diese Pflanzenart sechs Staubblätter hat (211). Zwar sind keine van Eyck-Zeichnungen erhalten, die Landschaften oder Pflanzen zeigen, aber man müsse trotzdem davon ausgehen, dass der Künstler derartige Motive im Medium der Zeichnung studierte (218-219).
Larry Silver stellt die Werkgruppe van Eyck vor und erläutert die wichtigsten Fragen der Forschung (37-58): Als gesicherte Arbeiten Jan van Eycks gelten nämlich nur eine Handvoll von Tafelgemälden, die der Künstler ab 1432 signierte. Ein großes Rätsel wirft der Genter Altar auf, welcher der 1432 datierten Inschrift zufolge von Jans älterem Bruder Hubert begonnen und von Jan fertiggestellt wurde. Hubert scheint jedoch schon spätestens 1426 verstorben zu sein. Obwohl er in der Inschrift als der größere Meister bezeichnet wird, sind von ihm keine weiteren Werke bekannt. Zunächst stellt sich die Frage, welche Teile des Genter Altars er gemalt haben könnte. Problematisch sind jedoch auch Malereien wie das New Yorker Diptychon und einige Miniaturen im Turin-Mailänder Stundenbuch. Diese zeigen mit ihren zahlreichen kleinen Figuren und erzählerischem Stil viele Parallelen zu Teilen des Genter Altars. Sie stehen aber in gewisser Weise im Gegensatz zu den gesicherten Arbeiten Jan, die ausschließlich statische Motive wie Porträts oder Marienbilder darstellen. Doch ob es sich hierbei um Werke Jans oder Huberts handelt, oder gar ihrer Schwester Margarete, kann Silver zufolge nicht entschieden werden (43).
Spannend sind auch die Ausführungen Jacques Paviots, in denen der Autor alle Fakten aufzählt, die aus archivalischen Quellen hervorgehen (59-84). Irritierend ist etwa, dass Jan van Eyck offenbar ab 1425 im Dienst des Burgunderherzogs stand, jedoch kein einziges Werk bekannt ist, das er für den Herzog schuf. Andererseits werden in den Dokumenten auch zahlreiche rätselhafte Reisen in ferne Länder erwähnt, für die der Maler vom Herzog äußerst großzügig entlohnt wurde.
Von eminenter Bedeutung sind die Erkenntnisse, die Hélène Dubois präsentiert (237-260). Die Restauratorin und ihr Team entdeckten 2010, dass ein großer Teil des Genter Altars von einer geschickten Übermalung aus dem 16. Jahrhundert bedeckt war. Sie vermuten, dass es sich hierbei um das Ergebnis einer frühen "Restaurierung" handelt, für die Jan van Scorel und Lancelot Blondeel verantwortlich waren. Nach Beratungen mit internationalen Experten wurde beschlossen, die Übermalung zu entfernen. 2020 war ein großer Teil der ursprünglichen Malerei wieder freigelegt und es zeigte sich, dass zahlreiche Details von der Übermalung bedeckt waren, wodurch der Stil insgesamt weniger naturalistisch wirkte.
Jan Dumolyn und Frederik Buylaert analysieren die Funktionsweise von Jan van Eycks komplexer Welt aus sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive. Unter anderem meinen sie, dass die "Kapitalbildung" in Burgund eine Voraussetzung für die Entstehung der niederländischen Kunst war (93). Figuren wie Jan van Eyck seien aber nicht nur das passive Ergebnis der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern sie gestalteten diese auch aktiv mit, indem sie Meister des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage waren (121).
Eine Gruppe von Essays im dritten und vierten Teil des Buches verfolgt das Ziel, die Werke Jan van Eycks in ihrem künstlerischen Umfeld zu verankern. So wirft etwa Ingrid Geelen einen Blick auf die burgundische Skulptur des 15. Jahrhunderts, die einen ähnlich naturalistischen Stil zeigt wie van Eycks Werke, und verweist auf schriftliche Quellen, denen zufolge van Eyck und seine Werkstatt auch Skulpturen entwarfen und polychromierten. In eine vergleichbare Richtung gehen die Beiträge von Lieve de Kesel und Till-Holger Borchert. Sie versuchen, dem Einfluss van Eycks in der niederländischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts beziehungsweise der spätgotischen Tafelmalerei in Mitteleuropa nachzuspüren. Leider handelt es sich hierbei aber nur um Aufzählungen von Werken beziehungsweise Künstlern. Interessanter sind die Überlegungen von Win de Clercq, Maxime Poulain, Jaume Coll Conesa, Jan Dumolyn und Heike Zech. Die Autoren zeigen, dass das Aussehen von Motiven wie Bodenfliesen, orientalischen Teppichen oder Gefäßen aus Glas beziehungsweise Metall in den Werken van Eycks oft mit dem Design von erhaltenen Objekten aus dieser Zeit übereinstimmt. Andererseits betonen sie, dass der Künstler sich vom Aussehen real existierender Objekte oft nur anregen ließ und quasi selbst ein Designer war, der verschiedene Stile nachahmte. In anderen Aufsätzen werden interessante Hypothesen aufgestellt, welche die Autoren dann allerdings meist nicht beweisen können. So glaubt etwa Stephan Kemperdick, der verlorene rechte Flügel der Berliner Kirchenmadonna zeigte ursprünglich nicht - wie bisher angenommen - ein Stifterporträt, sondern einen gekreuzigten Christus.
"Van Eyck - Eine optische Revolution" enthält also eine ungewöhnlich große Zahl von brillanten Essays, in denen es den Autoren gelingt, eine breite Leserschicht anzusprechen: die Publikation ist einerseits eine hervorragende Einführung in das Gebiet und fasst den neuesten Forschungsstand zusammen, andererseits bieten viele Beiträge auch für Spezialisten interessante Informationen. Allerdings fällt es schwer, sich über einige Kernthesen eine abschließende Meinung zu bilden, darunter vor allem die Antiken- und Al Hazen-Rezeption. Dies sind hochinteressante neue Fragestellungen, die noch genauer untersucht werden müssen.
Anmerkungen:
[1] Michael Baxandall: Bartholomaeus Facius on Painting: A Fifteenth-Century Manuscript of the De Viris Illustribus, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 27 (1964), 90-107.
[2] Pliny Natural History, übers. v. Horace Rackham, 10 Bde., Cambridge / London 1961.
[3] David C. Lindberg: Theories of Vision from Al-Kindi to Kepler, Chicago 1976; Marc de Mey: Jan van Eyck and the representation of glow, in: Anna De Floriani und Maria Flelia Galassi (Hgg.): Culture figurative a controntato tra Fiantde e Italia dal XV al XVII seculo, Mailand 2008, 19-29; Marc de Mey: The linies and luster of the light, in: Marc De Mey, Maximiliaan P. J. Martens und Cyriel Stroo (Hgg.): Vision and material. Interaction between art and science in Jan van Eyck's time, Brüssel 2012, 28-63.
[4] Leon Battista Alberti: On Painting, hrsg. v. Martin Kemp, London 1991.
Anna Simon