Stephan Kemperdick / Erik Eising / Till-Holger Borchert (Hgg.): Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit. Ausstellungskatalog / Gemäldegalerie - Staatliche Museen zu Berlin, 31.03.2023-16.07.2023, Berlin, München: Hirmer 2023, 304 S., 250 Farb-Abb., ISBN 978-3-7774-3847-4, EUR 55,00
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Hugo van der Goes gehört mit Jan van Eyck und Rogier van der Weyden zu den bedeutendsten niederländischen Malern des 15. Jahrhunderts. Obwohl sein Name nicht mehr jedem bekannt ist, hat er einen entscheidenden Beitrag zur Weiterentwicklung des niederländischen Realismus geleistet. Denn während van Eyck die sichtbare Außenwelt in unglaublicher Detailtreue wiedergab, ist Hugos "Realismus" nach innen gerichtet: den Künstler interessierten vor allem die seelischen Vorgänge. In diesem Sinne ist Hugo van der Goes also eigentlich ein Vorläufer von Rembrandt. Außergewöhnlich ist dieser Maler aber auch deshalb, weil über sein Leben und seine Persönlichkeit mehr bekannt ist als über andere Künstler dieser Zeit. Durch einen seiner Zeitgenossen wurde nämlich überliefert, dass er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt.
Angesichts der Bedeutung dieses Künstlers ist es umso überraschender, dass die erste Ausstellung über sein Werk erst 2023 in der Berliner Gemäldegalerie zustande kam. Nach einer etwa zehnjährigen Vorbereitungszeit gelang es den Kuratoren Stephan Kemperdick und Erik Eising, fast alle transportierbaren Werke Hugos nach Berlin zu bringen, darunter auch Schlüsselwerke wie das Wiener Diptychon und den Brügger Marientod. Das Triptychon in Florenz und die Flügelbilder in Edinburgh sind freilich zu groß und teilweise auch in einem zu fragilen Zustand, um auf die Reise geschickt zu werden. Da der Portinari-Altar jedoch eines der Hauptwerke der altniederländischen Malerei ist, wäre es wichtig gewesen, die Uffizien als Kooperationspartner für die Ausstellung zu gewinnen. Ebenfalls nicht zu sehen waren die Miniaturen in London, Los Angeles und Cambridge (Massachusetts), welche ich dem Künstler 2015 zugeschrieben habe. [1] Neben eigenhändigen Arbeiten Hugos waren in Berlin außerdem eine große Anzahl von Werken mutmaßlicher Nachfolger beziehungsweise Mitarbeiter sowie (zum Teil auch mutmaßliche) Kopien nach verlorenen Werken ausgestellt. Allerdings fehlte auch das wichtigste, durch Kopien überlieferte Werk Hugos: die Geburt Christi bei Nacht gilt als eine der ersten Nachtszenen der europäischen Malerei.
Begleitet wurde die Ausstellung von einem gut 300-seitigen, vorbildlich illustrierten Katalog. Der erste Teil der Publikation enthält zwölf kürzere, zumeist von den üblichen "Verdächtigen" verfasste Essays. Auffällig ist jedoch, dass wenige Texte von jüngeren Forschern stammen. Zudem konnte oder wollte man - außer Berndhard Ridderbos - keine ausgewiesenen Hugo-Spezialisten als Autoren gewinnen: Namen wie Carolin Quermann, Susanne Franke, Margaret Koster oder Jochen Sander findet man meist nur in den Anmerkungen und in der Bibliografie. Letztere enthält übrigens nur wenige Publikationen, die nach 2010 erschienen, und nach 2015 veröffentlichte Arbeiten scheinen gänzlich zu fehlen. Was den Inhalt der Texte angeht, muss man leider auch feststellen, dass allzu häufig ältere Forschungsmeinungen wiederholt werden, wobei sich die Autoren vor allem auf die Berliner "Museums-Autoritäten" Max Jacob Friedländer (1867-1957) und Friedrich Winkler (1888-1965) berufen. Dennoch findet man hier und dort interessante neue Ideen, zum Beispiel bei Erik Eising, der auf die zahlreichen motivischen Gemeinsamkeiten zwischen Hugos Werk und den Arbeiten des sogenannten Meisters des Erlösungsaltars hinweist (38ff). Jedoch muss man Eising entschieden widersprechen, wenn er der Meinung ist, dass die Künstlerfamilie Bouts und Joos van Wassenhofe für Hugos Kunst keine bedeutende Rolle spielten (35-36). Tatsächlich ist aus stilistischen Gründen nicht von der Hand zu weisen, dass zwischen Dirk Bouts d.Ä. und Hugo van der Goes höchstwahrscheinlich eine Lehrer-Schüler-Beziehung bestand. Daher wäre es wichtig gewesen, in der Ausstellung Werke von Bouts d.Ä. zu zeigen. Aelbrecht Bouts, der jüngste Sohn Bouts d.Ä., wird zwar in Till-Holger Borcherts Essay über die Nachfolge Hugos erwähnt, doch auch von ihm waren leider keine Werke zu sehen, obwohl er einer der bedeutendsten Künstler war, die sich von Hugo beeinflussen ließen.
Interessant sind Maryan W. Ainsworths Überlegungen zu Hugo van der Goes als Porträtmaler. Ihr Ausgangspunkt ist der Vergleich der Porträts von Maria Baroncelli-Portinari von Hugo und Memling. Die Forscherin kommt zum Schluss, dass Hugo seine Modelle viel realistischer wiedergab als Memling, der als Porträtmaler sehr erfolgreich war und dazu neigte, seine Kunden idealisierend dazustellen (56). Dem könnte man noch hinzufügen, dass Hugo seine Figuren eigentlich oft sogar ein wenig verhässlichte, wie zum Beispiel Eva auf dem Wiener Diptychon. Ainsworth stellt die Hypothese auf, dass der Künstler Porträts sehr sorgfältig in Form von gemalten und gezeichneten Studien vorbereitete, da die Unterzeichnungen der Porträts nicht sehr detailliert ausgeführt sind oder sogar gänzlich fehlen (58-61). Lesenswert ist aber auch Katrin Dyballas Aufsatz über "Malende Mönche und Künstler im Kloster", in dem die Autorin darauf hinweist, dass Hugo van der Goes dem Kloster, in das er sich gegen Ende seines Lebens zurückgezogen hatte, höchstwahrscheinlich ein beträchtliches Vermögen einbrachte (52).
Zu kritisieren ist am Berliner Katalog vor allem die fehlende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der jüngsten Forschung. Dies betrifft einerseits die Abschreibung des Monforte-Altars, der bis 2015 als das früheste erhaltene Werk Hugos und eines der wichtigsten Bestandteile der Berliner Altniederländer-Sammlung galt. [2] Andererseits fehlt auch eine Stellungnahme zur Zuschreibung der oben erwähnten Miniaturen. Tatsächlich war sogar das sogenannte Berliner Album ausgestellt, das weitere, bisher nicht als Werke Hugos erkannte Miniaturen enthält. Jedoch war die Handschrift nicht auf die Seiten aufgeschlagen, auf denen sich die (mutmaßlichen) Hugo-Miniaturen befinden. In der zugehörigen Katalognummer ist zwar die Miniatur in Los Angeles groß abgebildet - mit der Bemerkung, dass Miniaturen von Hugo van der Goes so ausgesehen haben könnten (214-215). Allerdings fehlt der Verweis auf die Publikation, in der sie dem Künstler zugeschrieben wurde. Dadurch ist oft schwer zu entscheiden, ob man dem Leser bestimmte Informationen bewusst vorenthalten wollte, oder nur schlecht recherchiert hat.
Als Ausstellung hinterlässt Hugo van der Goes in Berlin also einen gemischten bis positiven Eindruck. Immerhin ist es den Kuratoren endlich gelungen, einen Großteil der Werke dieses bedeutenden Niederländers an einem Ort zu versammeln. Dies ist bei Altmeister-Ausstellungen an sich schon eine kleine Sensation. Als Forschungsprojekt ist sie jedoch eher enttäuschend. Vermutlich konnte sie aufgrund von politischer Einflussnahme und eines zu knappen Budgets nicht in der ursprünglich geplanten Form verwirklicht werden.
Anmerkungen:
[1] Anna Simon: Studien zu Hugo van der Goes, Heidelberg 2015, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2015/3452, 113-129.
[2] Ebenda, 130-148.
Anna Simon